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GESPRÄCH MIT JEAN-FRANÇOIS LAPOINTE: „Die Globalisierung hat auch den Gesang erreicht“

17.11.2014 | INTERVIEWS, Sänger

GESPRÄCH MIT JEAN-FRANÇOIS LAPOINTE:
„Die Globalisierung hat auch den Gesang erreicht“

Waldemar Kamer/Paris

Lapointe

Jean-Francois LAPOINTE

Das Café Zeppini gegenüber der Opéra de Marseille hat den Ruf die beste Eisdiele der Stadt zu sein. Doch während der Regen gegen die Fenster klatscht trinkt Jean-François Lapointe lieber eine warme Schokolade. Nichts scheint ihn aus der Ruhe bringen zu können und schon gar nicht so ein Thema wie das Wetter. Es geht eine angenehme Bodenständigkeit von ihm aus: er formuliert überaus präzise, ist offensichtlich sehr gebildet, doch keineswegs eitel. Nach über dreißig Jahren Karriere – er hat schon mit sechzehn angefangen – und über siebzig Rollen, braucht er sich und der Welt offensichtlich nicht mehr so viel zu beweisen. Er ist in Frankreich bekannt als einer der größten Interpreten des Pelléas seiner Generation und als reputierter Spezialist des französischen Repertoires. Demnächst wird er den Valentin im „Faust“ der Pariser Oper singen und in Paris auch eine Masterclass über den französischen Gesangsstil geben.

 Angefangen hat alles in einem kleinen Städtchen im französischsprachigen Kanada: Saguenay-Lac-St-Jean in Québec. Dort war sein Vater Automechaniker und arbeitete seine Mutter mit behinderten Kindern. Beide liebten Musik und sangen im Kirchenchor. Sein Vater trat auch in der Operette auf, die ein Mal pro Jahr gegeben wurde, zu Karneval. Eine „Lustige Witwe“ (natürlich auf Französisch) machte großen Eindruck auf den Jungen und er fing an, seinen Vater auf dem Klavier zu begleiten und sich alle Operettenplatten im Haus an zu hören. Mit zwölf fing er an zu singen und mit vierzehn dirigierte er den Kinderchor in der Kirche. Mit fünfzehn begann der ernsthafte Gesangsunterricht. Einmal pro Woche kam der Lehrer in die kleine Stadt. Die erste Woche bekam der Vater Unterricht, die zweite der Sohn. Mit sechzehn nahm er an einem Sommer-Musikcamp teil, als Pianist – denn das war das Instrument, das er schon seit zehn Jahren spielte und anscheinend gar nicht schlecht. Doch für das Abschlusskonzert konnte der Flügel nicht auf die Waldbühne transportiert werden und fragte der Junge enttäuscht, ob er dann nicht wenigstens etwas singen könnte. Der Dirigent meinte: „ja nur wenn Du auch eine Orchester-Partitur findest“. Jean-François setzte sich an einen Tisch und schrieb in einer Nacht eine Orchestrierung für „Ombra mai fu“, komplett für alle Orchesterstimmen. Das war der Durchbruch. Er bekam eine Dispens, um als schon sechzehnjähriger am staatlichen Gesangwettbewerb teilzunehmen, in der Kategorie „18 bis 20“. Er gewann ihn gleich drei Mal nacheinander. Mit neunzehn gab er 40/50 Konzerte im Jahr, mit 22 sogar 130 Konzerte (!). Danach fühlte er sich reif für den großen Sprung über den Ozean und kam 1988 nach Paris, wo er den „Concours international de Chant“ gewann und mehrere Engagements bekam.

 Als leichter Bariton sang er erst die Rollen die er seit seiner Kindheit kannte: Danilo in der „Lustigen Witwe“, eine Rolle im „Weißen Rössel“ (auf Französisch „L’Auberge du cheval blanc“). So ging es ungefähr zehn Jahre lang an vielen kleinen Häusern. Der große Fachwechsel und internationale Durchbruch verdankt er seiner Passion für wenig bekannte Stücke. 1989 ging das Telefon in Montreal und fragte sein Agent: „Ich habe doch hoffentlich nicht gelogen, als ich eben behauptet habe, dass „Hamlet“ von Ambroise Thomas bei Ihnen im Regal steht und Sie die Rolle kennen?“. Der Klavierauszug von „Hamlet“ stand wohl in der Bibliothek mit 600 (!) meist französischen Opern, aber Jean-François Lapointe, der „lieber unbekannte Partituren liest als Platten hört“ hatte sich dieses Werk noch nie angesehen. Aber singen wollte er die Titelpartie wohl. „Wann und wo ?“ – „Premiere in Kopenhagen in fünf Tagen“. Als der Sänger aus dem Flugzeug stieg waren es nur noch vier. Er bat um einen Pianisten, 15 Stunden pro Tag, drei Tage lang – denn die Partie ist sehr lang. Nach der Premiere sprach sich seine Leistung schnell herum und bekam er viele Anfragen für schwierige oder seltene Rollen. Denn wenig Sänger sind heute bereit, um Rollen auswendig zu lernen, die sie dann nur ein oder zwei Mal singen. Bei Massenet sang er zum Beispiel nicht nur Albert in „Werther“ und Lescaut in „Manon“, sondern auch Amroux in „Le Mage“, Garrido in „La Navarraise“ und Marc-Antoine in „Cléopâtre“. Über „La Chute de la maison Usher“ von Debussy kam er zu Pelléas, seiner Paraderolle, die er in der legendären Inszenierung von Peter Brook seit 1993 auch in Wien und an der Scala gesungen hat. Seit letztem Jahr singt er Golaud. Nicht weil er Pelléas nicht mehr singen könnte, aber weil er findet, dass er als bald fünfzigjährig „optisch einfach zu alt ist“. Über Wilhelm Tell („Guillaume Tell“ von Rossini) fand er zu der jetzigen Rolle des Pharaon. Er meint nüchtern dazu: „eine undankbare Rolle ohne große Arie und schwierig, weil teilweise schlecht geschrieben. Vokalisen sind wunderbar brillant und leicht wenn sie hoch sind. Doch in der Tiefe, der Mittellage und Passaggio ist das gar nicht einfach und hat auch wenig Wirkung. Das gilt nicht nur für meine Partie, sondern für die vier Hauptrollen des Stückes, alle wirklich sehr schwer – wahrscheinlich der Grund, warum diese Oper so selten gespielt wird. Ich habe es aus musikologischem Interesse getan, es war meine elfte Rolle in Marseille. In Zukunft singe ich lieber wieder Guillaume Tell“ (nächstes Jahr in Genf).

 Bald wird Jean-François Lapointe in Paris sein, um mit den jungen Sängern der „Académie“ der Opéra Comique zu arbeiten, so wie es Mireille Delunsch letztes Jahr getan 5/2013). Was wird er ihnen beibringen? „Das weiß ich noch nicht genau, das wird davon abhängen, was sie mir vorsingen werden“ antwortet er. „Aber sicherlich wird es sich um den typisch französischen Gesangsstil handeln, der immer weniger unterrichtet wird und den ich immer weniger auf der Bühne höre. Das ist übrigens ein allgemeines Problem: die Globalisierung hat inzwischen auch den Gesang erreicht. Überall wird genau derselbe Sound produziert und alles auf die gleiche Art gesungen: Barock wie romantische Musik, deutsche wie französische Romantik etc. Natürlich ist es wichtig, einen weiten Horizont zu haben, aber man kann nicht gut in allem sein. Und nur wenn man sich spezialisiert, kann man auch in einem Fach wirklich hervorragend werden.“ Auf deutsch sagt man: „in der Begrenzung zeigt sich der Meister“. Und so wurde Jean-François Lapointe einer der hervorragensten Interpreten des Pelléas, den er mehr als zweihundert Mal gesungen hat. In zehn Jahren würde er gerne Wolfram singen – und dann wird man vielleicht auch mehr von ihm in deutschen Landen hören.

Waldemar Kamer

 

 

 

 

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