Gerhard Jelinek:
1924
SCHNELLER, FRECHER, WILDER –
DER BEGINN DER FABELHAFTEN ZWANZIGER
256 Seiten. Amalthea Verlag, 2023
Nehmen wir an, die Welt steht in hundert Jahren noch und jemand wollte ein Buch über das Jahr 2024 schreiben, das uns derzeit bevorsteht. Wovon würde es handeln? Zweifellos von den Kriegen in der Ukraine und in Israel, von den nicht zu dämmenden Flüchtlingsströmen nach Europa, von radikalen Klimaklebern, von stets neuen Forderungen gegen die koloniale Anmaßung von einst, von hässlichen, inszenierten Polit-Skandalen und wohl auch von Hexenjagden auf Zeitgenossen, die den jüngsten moralischen Ansprüchen nicht genügen. Ein Horrorbild – und wir leben mitten drinnen.
Wie war das vor hundert Jahren, als die „Goldenen Zwanziger“ sich gewissermaßen etablierten – und dann, das sollten wir nicht vergessen, sich innerhalb kurzer Zeit dermaßen überschlugen, dass die Wendung zum Faschismus, damals von einer Majorität begrüßt, möglich wurde? Immerhin hat man damals diesen Adolf Hitler schon wahr genommen…
Ein Rückblick auf das Jahr 1924, wie ihn Gerhard Jelinek (der solcherart schon die Jahre 1914,1919 und teilweise 1938 aufgearbeitet hat) nun zusammen stellt, übt sich in Vielfalt der Themen. Der Autor geht nach dem Datum vor, holt sich zu einzelnen Tagen punktuell gewisse Ereignisse heraus, die mehr oder minder Signifikanz haben (in welche Richtung auch immer) und hat dabei neben Sekundärliteratur auch in hohem Maße Zeitungen von damals befragt.
Worum geht es also? Schwerpunkte des Jahres sind die Einführung des Schillings als österreich-eigene Währung dieser Ersten Republik, als erstes Massenmedium tritt das Radio auf, man glaubt es nicht, aber man kann fliegen – und die erste „Opernredoute“ nach dem Krieg war ein glanzvolles gesellschaftliches Ereignis, quasi der Vorläufer des Opernballs. Es gab neuen Reichtum, Charleston, für die Frauen Bubikopf, und es entfesselte sich jene Vergnügungssucht, die man mit diesem Zeitalter in Verbindung bringt.
Es gibt wieder Bälle und Operettenaufführungen. Es ist ein künstlerischer Höhepunkt des Jahres, als Max Reinhardt „sein“ Theater in der Josefstadt (mit den sich zauberisch hebenden Luster) eröffnet. Eher krisenhaft fallen die Salzburger Festspiele aus, aber sie finden statt. Und Wiens Opernfreunde haben ihren Skandal, als Richard Strauss der Staatsoper als Direktor ade sagt. Zur Kultur gehört auch noch, dass Karl Kraus und Arnold Schönberg ihre 50. Geburtstage feiern, ersterer hat mehr Fans als letzterer…
Der Winter war kalt und dauert bis April, bei der Winterolympiade in Chamonix war Österreich erstaunlich erfolgreich, Bei der Sommerolympiade waren allerdings auch Österreichs Zeitungen voll von einem Finnen, der fünf Goldmedaillen gewann und dessen Name sprichwörtlich wurde: „Nurmi“.
Die Welt formiert sich nach dem Krieg politisch um – aus Russland wird die Sowjetunion, das türkische Kalifat endet, die Griechen schicken den König weg (der deutsche Prinz wird allerdings, was man damals noch nicht weiß, in dieser seiner Eigenschaft wieder kommen). Als die drei Kinder des ermordeten Thronfolgerpaares zehn Jahre danach in Artstetten illustre Gäste empfangen, ist schon klar, dass es auch in Österreich noch Monarchisten gibt (die auf den jungen Otto hoffen). Aber die Zukunft gehört, was man auch noch nicht weiß, einem Adolf Hitler: Der Hochverratsprozeß, den man ihm in diesem Jahr macht, schafft es auch in Österreich auf die Titelseiten. Ebenso wie ein Attentat auf Bundeskanzler Ignaz Seipel.
Man liest von Damen, von Alice Schalek, von Eugenie Schwarzwald, von Marianne Hainisch (die Mutter des Bundespräsidenten „erfindet“ den Muttertag). Andere prominente Namen: Ludwig Wittgenstein, der dank des Familienvermögens ein Luxusleben führen konnte, bewirbt sich um eine Lehrerstelle am Land… Und man erfährt von den Tragödien um Theodor Herzls Kinder.
Autos werden häufiger, Fußball wird wichtiger, und die Tabakregie muss aufgerüstet werden. Wo Geld ist, sind die Spekulanten nicht weit, da platzen Blasen und fallieren Banken. Ja, und noch eine Kuriosität. Schon damals ist von Außerirdischen die Rede…
Mit Dichtern klingt das Jahr aus. Hugo von Hofmannsthal besuchte Arthur Schnitzler zu Silvester, und beide philosophierten über das Verrinnen der Zeit.
Das alles liest man in unterschiedlich langen, aber nie zu langen Kurzkapiteln, das meiste davon ist unterhaltend und auch wichtig. Aber natürlich gehört im Alltag auch das Unwichtige dazu. Jedenfalls taucht man ein – in die Welt vor hundert Jahren.
Renate Wagner