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Georg Hamann: 60 x WIEN

07.01.2023 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

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Georg Hamann
60 X WIEN
WO ES GESCHICHTE SCHRIEB:
MENSCHEN – MÄCHTE – MOMENTE
304 Seiten . Amalthea Verlag, 2022

Erfolgsrezepte soll man nicht zerstören, sondern darauf aufbauen. Genau das tat Georg Hamann, der sich als Wiener Lokalhistoriker einen Ruf erworben  hat, wenn er seinem Vorgängerbuch „50 x Wien“ von 2016 nun gar „60 x Wien“ nachschickte, Geschichte der Stadt, wo man sie findet, lose mit Adressen verbunden, aber bunt gemischt von allem erzählend, was man sich nur denken kann. Eine Nachtkastl-Lektüre für viele Wochen, Geschichten von durchschnittlich vier, fünf Seiten, die oft Neues bringen.

Es beginnt in der Probusgasse – warum? Weil der römische Kaiser Marcus Aurelius Probus (nicht mit dem „klassischen“ Marc Aurel zu verwechseln) es war, der angeblich den Wein nach Wien gebracht hat – immerhin eine Großleistung. Das war im dritten Jahrhundert nach Christus. Die letzte Geschichte handelt von einem damaligen Gymnasiasten, der sich dem Dritten Reich widersetzte, aber im Gegensatz zu den Mitgliedern der „Weißen Rose“ überlebte – so spannt sich der Bogen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.

Es ist sinnvoll, dass die Artikel, so verschieden sie sein mögen, chronologisch angeordnet sind. Solcherart durchschreitet man die Geschichte der Stadt durch die Jahrhunderte (wobei sich einzelne Stories auch zeitlich dehnen – etwa, wie lange man versucht hat, den Wienern Kleidervorschriften zu machen!).

Von der Babenberger-Stadt, die winzig war (nur ein Bruchteil des Ersten Bezirks), aber unter dieser Familie schon ausgebaut wurde, führt der Weg zu den skurrilsten Themen, etwa der Reliquienverehrung, die auch bei uns im Mittelalter die seltsamsten Blüten trieb. Wer’s glaubt, meint der Autor, kann in der Geistlichen Schatzkammer ein Stück Tischtuch vom Letzten Abendmahl bewundern…

In dieser geistlichen Schatzkammer findet sich auch die Geißel, mit der Kaiserin Anna (die Gattin von Kaiser Matthias) sich in ihrer übergroßen Frömmigkeit züchtigte – aber immerhin verdankt man der Dame die Gründung der Kapuzinergruft. Georg Hamann bietet eine Menge interessanter „Frauen“-Geschichten – von jener Helene Kottanerinn, die im 15. Jahrhundert nicht nur tatkräftig half, die Habsburgische Herrschaft in Ungarn zu sichern (wenn auch nur für kurze Zeit), sondern die auch als eine der frühesten Frauen ihre Geschichte niederschrieb. Was die Heilige Elisabeth betrifft, so geht es vor allem um ihren Schädel, der in dem Wiener Elisabethinenkloster aufbewahrt wird. Da ist die Gräfin Althann, die gemeinsam mit ihrem Gatten, die besondere Gunst von Kaiser Karl VI. genoß. Karoline von Perin, die sich der Revolution anschloß. Bertha von Suttner, die in der Friedensbewegung viel populärer wurde als der genau so wichtige Heinrich Lammasch. Rosa Mayreder und ihre Leistungen. Eine Geschichte für sich ist es, wie Kaiserin Zita die Leichen ihrer bourbonischen Verwandten hin- und herschieben ließ.,,

Stark sind – wie es historisch ja auch verbürgt ist – die Juden hier vertreten. Immer wieder, auch unter Kaiser Leopold I., mussten die armen Leute ihr Bündel schnüren, nur die „Hofjuden“ durften bleiben. Wenn die Kaiser ihnen aber, wie es Samuel Oppenheimer geschah, Millionenschulden einfach nicht zurückzahlten, konnte das europäische Finanzsystem knirschen… Kaum hatten die Juden ihre vollen Bürgerrechte erhalten, brachen heftige Differenzen zwischen Orthodoxen und Liberalen unter ihnen aus. Und zahlreiche jüdische Persönlichkeiten „spielen mit“.

Man begegnet Künstlern aller Sparten – Antonio Vivaldi (der nach Wien kam, um Karriere zu machen und hier starb), der junge Joseph Haydn, Niccolo Paganini, Albert Lortzing, man ist im Theater mit „Hanswurst“ Stranitzky, mit Emanuel Schikaneder, bei Heinrich Laube. Man lernt einiges über die Wiener „Nazarener“ (von denen man heute noch die Johann Nepomuk-Kirche in der Praterstraße sehen kann) oder über  dem Architekten Oskar Marmorek. Und um die Büste, die Auguste Rodin von Gustav Mahler schuf… In der exzessiven Vergnügungsindustrie geht es etwa um die Feuerwerk-Kultur der Stadt oder den Giraffen-Kult…

Man begegnet originellen Persönlichkeiten, etwa jenem Johann Trattner, der als Drucker ein Vermögen machte, dass er sich den legendären Trattner-Hof bauen lassen konnte (wo auch Mozart gewohnt hat), der aber einen Großteil seines Geldes mit kriminellen Raubdrucken verdiente. Oder der skurrile Franz von Wertheim, unendlich reich und schlecht erzogen. Oder der legendäre Briefmarkenhändler Sigmund Friedl, der seinen Ruf mit Fälschungen ruinierte. Nathaniel Meyer Rothschild und der Beginn des Wiener Fußballs. Der vergessene Forscher Friedrich Julius Bieber, der das Königreich Kuffa im abessinischen Hochland entdeckte. Clemens von Piquet, der Allergien erforschte und ein Anti-Tuberkulose-Mittel fand,,.

Unmöglich alles aufzuzählen, worüber man etwas lernen kann, etwa über die Entwicklung von Institutionen – Krankenfürsorge, Pockenimpfung, Cholera und Seuchenbekämpfung, Wiener Rettung, Wiener Polizei, Wiener Verkehr (bis zurück zum Sesselträger), aber man erfährt auch einiges über die Entwicklung der Zuckerindustrie…

Und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass der Autor schon dabei ist, in ein paar Jahren wieder ein halbes Dutzend interessanter Wiener Geschichten zu liefern.

Renate Wagner

 

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