Sängerfest in Genf: „La donna del lago“ von Rossini im Grand Théâtre Genève (Vorstellung : 17. 5. 2010)
Die zweiaktige Oper „La donna del lago“ („Die Frau vom See“) von Gioacchino Rossini – im Jahr 1819 in Neapel uraufgeführt – wurde im
Grand Théâtre Genève zu einem grandiosen Fest der Sängerinnen und Sänger, die vom Publikum mit enthusiastischen Beifallskundgebungen belohnt wurden.
Die Handlung der Oper, deren Text von Andrea Leone Tottola nach Walter Scotts The Lady oft he Lake verfasst wurde, in der Genfer Fassung: Im Hochland von Schottland lebt das Mädchen Elena, deren Vater Duglas einst am Hofe Erzieher des jungen Königs James V. war. Doch der zum Jüngling gewordene Herrscher verstieß ihn. So lebt Duglas nun mit seiner Tochter zurückgezogen zwischen Bergen, Tälern und Seen und träumt davon, den König mit den Anhängern des mächtigen Rodrigo di Dhu zu stürzen. Elena, die sich nach Liebe sehnt, flüchtet sich in Phantasien. Ein Fremder, der sich während der Jagd verirrt hat, findet Schutz im Haus von Duglas und verliebt sich in Elena, die sich eingestehen muss, dass sie von ihm schon lang geträumt hat. Allerdings soll sie auf Wunsch des Vaters den Rebellenführer Rodrigo heiraten. Immer wenn sie ob ihrer Gefühle ratlos ist, erscheint wie ein Schutzengel Malcolm, der sich gleichfalls zu ihr hingezogen fühlt. Elena und Malcolm fühlen sich füreinander bestimmt. Im Dorf wird Rodrigo wie ein Held empfangen, soll doch seine Verbindung mit Elena gefeiert werden. Sie ist verwundert, dass ein Krieger so sanft sein kann, doch ehe sie sich verliert, erscheint auch Malcolm als Krieger, um seine Dienste für die bevorstehende Schlacht anzubieten. Rodrigo ist irritiert über die Vertrautheit, die er zwischen Elena und Malcom beobachten muss, auch Duglas sieht die Heirat seiner Tochter mit Rodrigo scheitern und damit auch seine politischen Pläne. Als ein Überraschungsangriff der königlichen Truppen gemeldet wird, verabschieden die Frauen des Dorfs die Männer, bevor sie in die Schlacht ziehen. – Wieder nähert sich der Fremde Elena und wirbt um sie. Elena jedoch fühlt sich ihrem Vater verpflichtet und bittet ihn, seine Liebe in Freundschaft zu verwandeln. Zum Beweis seiner Aufrichtigkeit schenkt ihr der Fremde einen Ring, den sie im Falle höchster Not dem König von Schottland zeigen solle. Er würde sie, ihren Vater und ihren Geliebten schützen. Als sie voneinander Abschied nehmen wollen, werden sie von Rodrigo überrascht, der sich mit dem Fremden duellieren will, eine für Elena unerträgliche Situation.
Während des Bürgerkriegs wird ihr Vater von den königlichen Truppen abgeführt. Malcolm macht Elvira klar, dass sie an den grausamen Vorgängen keine Schuld trägt. Elena macht sich auf den Weg zum König, sie ahnt, was sie sich nie zu glauben gestattete. Der Fremde ist der König selbst. Für Elena wird ein Traum Wahrheit: Ihr Vater und der Mann, den sie liebt, sind keine Feinde mehr.
Alles was sie sich in ihren Träumen herbeigesehnt hat, wird zur erfüllten Wirklichkeit.
Star des Abends war Joyce Di Donato in der Titelrolle. Sie brillierte mit ihrem vollen, klangschönen Sopran, der alle ihre Gefühlswelten nicht nur schauspielerisch, sondern auch stimmlich auszudrücken verstand. In jeder Szene, ob lyrisch verträumt oder dramatisch, überzeugte sie das Publikum, das zu Recht nicht mit Szenenapplaus geizte. Als Giacomo (König James V.) begeisterte der brasilianische Sänger Luciano Botelho mit hellem, wohlklingendem Timbre in der Stimme. Wieder ein südamerikanischer Tenor, der für Furore sorgt! Mit Heldenpose und tenoraler Kraft sang Gregory Kunde die Rolle des Rebellenführers Rodrigo. Er zählt zu den „Dauerbrennern“ unter den Rossini-Tenören, der auch immer wieder beim Rossini-Festival in Pesaro das Publikum zu begeistern weiß.
Die Hosenrolle des Malcolm gestaltete die Mezzosopranistin Mariselle Martinez sehr weiblich. Stimmlich überzeugend, musste sie in der Darstellung wohl der Regie Tribut zollen und mit stolzgeschwelltem Busen ihre Rolle der(s) Geliebten mimen. Der lautstarke Buhruf nach ihrer Liebesszene mit Elena galt sicherlich nicht ihrer Gesangsleistung! Der Bass Balint Szabo als Elviras Vater Duglas blieb ein wenig blass, hingegen konnte die Sopranistin Bénédicte Tauran in der kleineren Rolle der Albina, die in vielen Szenen als verlängerter Arm des Regisseurs wirkte, vor allem darstellerisch glänzen. Der Tenor Fabrice Farina als Serano fügte sich gut in das großartige Sängerensemble ein.
Wirkungsvoll auch der Chor des Grand Théâtre de Genève (Einstudierung: Ching-Lien Wu), der sowohl als „Reitertruppe“ wie auch als feiernde Dorfbewohner oder revoltierendes Volk stimmlich und darstellerisch überzeugte. Das Orchestre de la Suisse Romande wurde von Paolo Arrivabeni geleitet, der – ein Meister des italienischen Fachs – wesentlich zum „Sängerfest“ des Abends beitrug. Sein umsichtiges, sängerfreundliches Dirigat arbeitete alle Facetten der Rossini-Partitur wunderbar heraus. Es wäre eine konzertante Aufführung der Sonderklasse gewesen! Aber es war eine szenische Aufführung.
Eigentlich wäre es besser, einmal nicht über den Regisseur zu schreiben, kommen doch meist die Sängerinnen und Sänger viel zu kurz! Da es sich bei der Produktion von „La donna del lago“ aber um eine Koproduktion mit dem Theater an der Wien handelt, soll das Wiener Publikum darauf eingestimmt werden, was es zu erwarten hat. Christof Loy, dessen erfolgreichste Inszenierungen schon einige Zeit zurückliegen, verlegte die Handlung der Oper in die Neuzeit (eine wahrlich „originelle“ Idee!), wobei man das Gefühl bekam, als ob die gesamte Handlung als Traum Elviras abliefe. Indiz dafür eine zweite Bühne als großer „Guckkasten“, auf der die Personen hin und wieder verschwinden, manchmal auch wieder auftauchen. Sigmund Freud lässt grüßen…
Für die Bühne (das Interieur wirkte wie ein Vorraum eines schottischen Adelssitzes mit diversen Stehlampen und vielen, vielen Stühlen) und für die Kostüme (Alltagsgewand der Jetztzeit und Schottenröcke für Rodrigo und später auch für Malcolm) zeichnete Herbert Murauer verantwortlich, für das Licht (mit ihm wurde der Aufstand nicht gerade sehr effektvoll symbolisiert) Reinhard Traub.
Die Konzeption des Regisseurs war oft so verwirrend, dass sich die Zuschauerinnen und Zuschauer als „Traumdeuter“ versuchen mussten. Immer wieder ruckten die Köpfe in Richtung der drei mitlaufenden Texte (zwei seitlich in französischer Sprache, einer oberhalb der Bühne in französischer
und englischer Sprache, der allerdings wegen der Lichtverhältnisse oft unleserlich blieb), um die Handlung überhaupt verstehen zu können! Einige der „originellen“ Einfälle des Regisseurs verursachten beim Publikum nur noch Kopfschütteln oder verhaltenes Lachen. Malcolm, Elviras Geliebter, trat in derselben Kleidung wie Elvira auf und blieb auch in der Liebesszene eine Frau mit allen weiblichen Attributen, was zu dem bereits oben genannten Buhruf führte. Vor der Eifersuchtsszene zwischen Malcolm und Rodrigo tanzten plötzlich mehrere Brautjungfern auf der zweiten Bühne, ehe zwei von ihnen die Streithähne mit Schwertern versorgten und daraufhin alle in Ohnmacht sanken. Genug der krausen Einfälle des Regisseurs, der offensichtlich auch für die Änderung des Schlusses der Oper verantwortlich war (Rodrigo stirbt nicht während des Aufstandes und Elena braucht nicht ihren Vater um Erlaubnis zu bitten, ihren Geliebten Malcolm heiraten zu dürfen, hat sie doch den König selbst an der Angel).
Oder war alles doch nur ein Traum? Auf jeden Fall verließen viele Besucherinnen und Besucher das Haus eher ratlos, nachdem sie das Sängerensemble mit nicht enden wollendem Beifall gefeiert hatten.
Jubelorkane gab es für die großartige Joyce Di Donato, aber auch für die beiden prächtigen und dennoch so unterschiedlichen Tenöre Gregory Kunde und Luciano Botelho und den Dirigenten Paolo Arrivabeni.
Udo Pacolt, Wien – München