GELSENKIRCHEN: DON QUICHOTTE (Jules Massenet). Premiere am 7. Dezember Besuchte Zweitaufführung am 12. Dezember
Es ist wohl Zufall, dass im Raum Nordrhein-Westfalen Massenets „Don Quichotte“ binnen kurzer Zeit gleich dreimal auf die Bühne kommt/kam: in der letzten Spielzeit in Wuppertal, demnächst in Hagen und jetzt am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Gewinn kann man in dieser Ballung zunächst einmal darin sehen, dass auf den durchaus nicht allseits geschätzten, mitunter sogar belächelten Komponisten („ne Masse net von Massenet“) wieder einmal nachdrücklich hingewiesen wird. Von ausreichender Präsentation auf Bühne (und im Konzertsaal) ist nämlich kaum zu sprechen, wobei nur am Rande anzumerken wäre, dass die „Manon“ mittlerweile von „Werther“ (kürzlich in Essen) überflügelt scheint. Auf eine neue „Esclarmonde“ wird man nach Dessau aber wohl wieder einige Jahrzehnte warten müssen.
Alle Quichotte-Veroperungen (von Telemann über Paisiello – heute fast immer in der Henze-Fassung – bis hin zu Kienzl, Halffter und Zender, aber auch das Musical „Mann von La Manch und die Tondichtung von Strauss) greifen selbstredend auf den Roman von Cervantes zurück. Massenet geht allerdings einen Umweg über die Schauspiel-Adaption von Jacques de Lorrain. Die gewichtigste hier vorgenommene Änderung ist, dass Dulcinées Schönheit vom Titelhelden nicht lediglich imaginiert wird, sondern eine reale ist. Damit wird Quichottes Leidenschaft für die kokette Kokotte zu einem handfesten Johannistrieb.
In Gelsenkirchen variiert Regisseurin ELISABETH STÖPPLER (vor Ort besonders mit Britten-Opern erfolgreich gewesen) diese Gegebenheit mit weiteren Akzentuierungen. Quichotte ist bei ihr kein traumverlorener Ritter, schon gar nicht aus dem 17.jahrhundert, sondern ein einsiedlerischer Zeitgenosse, welcher sich in seine mit Büchern vollgestopfte Wohnung (virtuos verschachtelte Bühne: PIERO VINCIGUERRA) mehr oder weniger eingemauert hat und hier, versonnen Cello spielend, seinen Erinnerungen nachhängt. In Sonderheit die Familie von einst (Vater, Mutter, 4 Geschwister) hält seine Gedanken gefangen. Diese Figuren verwandeln sich während anderer visionärer Erzählepisoden (u.a. die mit den Windmühlen) zu hallizunatorischen Personen. Quichottes Geist kreist ebenso wie das mehrstöckige Haus, welches wie eine abgeschottete Burg wirkt. Betreut wird der Alte von einer Zugehfrau, für die er eine stille, aber heiße Leidenschaft empfindet. Ob diese Frau lediglich in seinen Träumen zu Dulcinée wird oder nicht bereits im Alltagsleben, kann durchaus offen bleiben. Dulcinées Liebe sucht er sich durch die Rückeroberung eines geraubten Schmuckstückes zu erkaufen. Aber diese femme de liberté vermag seine Gefühle nicht zu erwidern. Daran zerbricht Quichotte; sein Leben, dessen ritterliche Geschehnisse in Gelsenkirchen lediglich Metaphern für existenzielle Vorgänge sind, hat seinen Sinn verloren.
Der 5. Akt ist nur noch ein langsames Sterben. Und da gewinnt sich Massenets zuvor etwas spröde und rhetorisch anmutende Musik eine emotionale Verdichtung, die regelrecht betroffen macht. Diese Wirkung verstärkt die Inszenierung verstärkt, welche hier ganz still wird und auf der Bühne nur noch das Sterbelager Quichottes zeigt – eine versinnbildlichende Reduktion.
Mit diesem Bild hätte die Aufführung im Grunde beginnen können, um dann mit der Opernhandlung in ein Leben zurückzublenden, in welchem Quichotte wohl von Anfang an nicht mit beiden Beinen auf der Erde stand. 40 Jahre nach Massenet sollte Arthur Miller übrigens in „Tod eines Handlungsreisenden“ mit Willy Loman eine Figur auf die Bühne bringen, welche der Welt gleichfalls abhanden kommt. „Ein Handlungsreisender muss träumen, das gehört zu seinem Beruf.“ Quichotte träumt freilich, weil es zu seinem Wesen gehört.
Elisabeth Stöppler formt die eigentlich recht äußerlichen Chorszenen zu Erinnerungsbildern des Titelhelden um. Einige besitzen eher intimen Charakter, andere bersten geradezu alptraumhaft. Dass in diesem Rückblick auf ein Leben auf schwankendem Boden nicht nur Personen auftreten, welche Quichotte persönlich nahe stehen (Familie), sondern auch Figuren der Geschichte wie der fahnenschwenkende Che Guevara, Einstein, Hitler, Dali, Mutter Teresa oder auch Elvis Presley, ergibt eine leichte inszenatorische Hypertrophie, doch besitzt diese interpretatorisch weit schweifende Fantasie etwas äußerst Bezwingendes. Der Tod Quichottes geht ohne Sentimentalität vonstatten, dennoch oder gerade deswegen ergreifend.
Auch dank des Protagonisten KRZYSZTOF BORYSIEWICZ. Seine Eignung für Buffopartien demonstrierte er vor kurzem mit dem Mustafa in Rossinis „L’Italiana in Algeria“. Jetzt überzeugt er als Ritter von der traurigen Gestalt sowohl darstellerisch mit einem reichen gestischen und mimischen Ausdrucksvokabular. Seine grundsätzlich mächtige Stimme kann auch leicht schütter wirken, was der Figur alles Auftrumpfende nimmt. Sancho Pansa, der bei seinem Freund mit dem Fahrrad vorfährt, findet in DONG-WON SEO einen rustikalen, vokal vollsaftigen Widerpart (in der Premiere war es Joachim Gabriel Maaß). Die Dulcinée gibt ALMUTH HERBST in jeder Hinsicht mit Grandezza. Angemessen besetzt sind die Comprimario-Partien (DORIN RAHARDJA, ANKE SIELOFF, WILLIAM SAETRE), wobei die Bühnenpräsenz von MICHAEL DAHMEN besonders beeindruckt. Der junge Bariton ist über das Junge Ensemble des MiR ins Ensemble aufgestiegen und erfreut hier mit einem äußerst vielseitigen Repertoire. Exzellent der Chor (CHRISTIAN JEUB), welcher von der Regisseurin ausgesprochen individuell geführt wird. Die NEUE PHILHARMONIE WESTFALEN spielt unter dem jungen finnischen Dirigenten VALTTERI RAUHALAMMI überaus klangsensibel.
Zwei Vorstellungen des „Don Quichotte“ im nächsten Jahr laufen übrigens als „Hör.Oper“. Für blinde oder sehbehinderte Opernfreunde werden diese Aufführungen mit live gelesener Audiodeskription ergänzt. Ein Service, der besonderen Respekt verdient.
Christoph Zimmermann