FREDERIC CHASLIN
Eine Oper für Placido,
ein Musical für Roberto…
Frederic Chaslin (55) leitet heuer das Musikprogramm des Wiener Opernballs. Aber der Franzose hat viele Berufe. In Wien kennt man ihn vorerst vor allem als Dirigenten, obwohl eines seiner Bücher nun auch auf Deutsch erschienen ist. Dass er derzeit eine Oper für Placido Domingo und ein Musical für Roberto Alagna komponiert, hat er u.a. Renate Wagner erzählt. Sie bewarb sich um ein Interview, nachdem sie gelesen hatte, Chaslin komponiere den „Grafen von Monte Christo“ – eines der Lieblingsbücher ihrer Jugend
Das Gespräch führte Renate Wagner in deutscher Sprache, die Frederic Chaslin hervorragend beherrscht
Herr Chaslin, Sie haben derzeit in Wien ein dichtes Programm. Sie leiten Im Jänner / Februar Aufführungen von „Faust“ und „Liebestrank“, im April dann von „Turandot“ mit Roberto Alagna und „Don Pasquale“. Und dazwischen sind sie der Dirigent des musikalischen Programms des diesjährigen Opernballs. Das ist Ihr erstes Mal in dieser Funktion?
Ja, als Gast war ich schon öfter auf dem Ball, aber ich durfte noch nie das Begleitprogramm dirigieren. Nun wird man fragen – Walzer und ein Franzose? Aber ich habe wirklich lange Erfahrung mit dieser Musik. Schon als ich Generalmusikdirektor am Nationaltheater in Mannheim war, habe ich jedes Jahr zumindest ein Strauß-Programm (kombiniert mit anderer Musik) dirigiert. Ich fühle mich also kompetent für Johann und Josef Strauß, die es diesmal geben wird. Außerdem Walzermusik von Chabrier, von Gounod, von dem Pavol Breslik und Daniela Fally Arien singen werden, und auch das Stück aus der „Csardasfürstin“ ist ein Walzer…
Herr Chaslin, Sie sind ein Mann mit mindestens drei Berufen – Sie sind Dirigent in der Welt der Klassik, Sie sind Komponist, Sie sind Autor. Gibt es da Präferenzen?
Es läuft alles nebeneinander her – und ich muss ergänzen, dass ich in meinem Leben noch viel mehr gemacht habe. Ich war einmal eine Art „Wunderkind“, als ich bei den Jesuiten erzogen wurde, in einer Kapelle eine Orgel fand, um die sich niemand kümmerte, diese gleichsam in meinen Besitz nahm, mehr oder minder autodidakt zu spielen lernte und dann mit 9 Jahren der jüngste Organist Frankreichs war… Die Orgel ist für mich in der Reichhaltigkeit ihres Klanges bis heute das ultimative Instrument. Trotzdem war mir klar, dass ich ihr nicht mein ganzes Leben widmen will. Und wenn Wunderkinder in die Teenager-Jahre kommen, müssen sie einen ordentlichen Beruf erlernen, also ging ich an das Salzburger Mozarteum. Da hat dann das Klavierspiel eine große Rolle für mich gespielt, als Liedbegleiter, als Korrepetitor – ein Beruf, in dem man ungemein viel über Oper lernt -, gelegentlich auch als Solist in Konzerten oder in der Oper – bei einem Zanella-Ballett-Abend habe ich an der Staatsoper das 5. Klavierkonzert von Beethoven gespielt. Aber schließlich habe ich gewusst, dass ich unbedingt vor einem Orchester stehen möchte.
Es heißt, Sie verfügten über ein schier unglaubliches Repertoire von über 80 Opern. Wie behält man so etwas, und wie schnell ist das abrufbar?
Nun, zur Not muss es sehr schnell gehen wie neulich, als an der Wiener Staatsoper ein Dirigent krank geworden war und man mich in Jerusalem anrief, ob ich kommen könnte und die „Tosca“ dirigieren? Es war diese 600. Vorstellung der Wallmann-Inszenierung, und es gab gar keine Probe, ich schaute vorher nur kurz einmal in die Partitur. Und es ist glücklicherweise sehr gut gegangen. Wenn ich engagiert bin, Serien verschiedener Opern zu dirigieren, gibt es zumindest Proben.
Es fällt auf, dass Sie an der Wiener Staatsoper nur französisches und italienisches Repertoire dirigieren. Sind Sie ein Spezialist?
Überhaupt nicht, in meinen Jahren in Mannheim 2004 bis 2006 habe ich vor allem Wagner und Strauss dirigiert, und Wagner spielt für mich überhaupt eine große Rolle. Ich war schließlich in jenen Jahren Assistent von Daniel Barenboim in Bayreuth, als er mit Harry Kupfer den „Ring des Nibelungen“ machte. Und ich habe mich auch riesig gefreut, als man mich fragte, ob ich in Hannover als Dirigent für Peter Lehmanns „Ring“ einspringen könnte, und es war ein Riesenerfolg. Wofür man dann von den einzelnen Opernhäusern angefragt wird – das liegt dann an den jeweiligen Operndirektoren, ich habe auch an der New Yorker Met „Boheme“ und „Barbier“, „Troubadour“ und „Sizilianische Vesper“ sowie „Hoffmann“ gemacht, also Italiener und einen Franzosen. Jedenfalls dirigiere ich auch sowohl in der Oper wie im Konzertsaal gerne die Modernen.
Was ja nicht verwundert, da Sie ja auch Assistent von Pierre Boulez waren, einem Großmeister der Moderne?
Und als er 1991 erkrankte, durfte ich für ihn als Dirigent bei einem Konzert für „Wien modern“ einspringen, das war mein erstes Dirigat außerhalb Frankreichs. Aber als Komponist bin ich dann nicht seinen Fußspuren gefolgt, weil man sich entscheiden muss, wie weit man bereit ist, sich mit seiner Arbeit vom Publikum weg zu bewegen. Und ich möchte doch, dass meine Werke aufgeführt werden…
Ihre bisher fertigen Opern…
Ja, aber damit hat es nicht begonnen. Meine erste Liebe war die Filmmusik, und da hatte ich das Glück, dass Georges Delerue, ein ungemein erfolgreicher und auch in Hollywood viel beschäftigter Filmkomponist, mein Mentor war. Daran habe ich mich schon mit 15, 16 Jahren versucht, und ich habe auch für einige französische Filme die Musik geschrieben. Mein „berühmtester“ Beitrag zu einem Film ist zu „Das fünfte Element“ von Luc Besson mit Bruce Willis, wo ich den so genannten „Diva Dance“ komponierte und mit Donizetti verknüpfte… Inva Mula hat das gesungen, und es ist ziemlich populär geworden.
Also keinerlei Berührungsängste… Man liest im Internet, Sie hätten drei Opern geschrieben?
Ja, drei sind fertig, „Wuthering Heights“ nach Emily Bronte, und zwei Vertonungen nach Theophil Gautier, „Clarimonde“, eine Vampir-Geschichte, und „Avatar“.
Und wie ist es zu dem neuen Projekt gekommen, eine Oper für Placido Domingo zu schreiben?
Ich bin ja nun jedes Jahr gut zwei Monate in Wien, und da wohne ich in einer der Wohnungen von Placido. Irgendwann im letzten Jahr habe ich auf dem Klavier aus meinen Kompositionen gespielt, da klopfte es an die Tür. Placido stand da, fragte nach der Musik, war ganz interessiert und meinte, er träume davon, in einer „Monte Christo“-Oper auf der Bühne zu stehen. Was soll ich sagen? Nach einem ausführlichen Mittagessen kamen wir überein, und jetzt bin ich mit dem Projekt schon so weit, dass es in kurzer Zeit fertig sein sollte.
Das ist nun ein überaus komplexer, thematisch gewaltig reichhaltiger Roman, und Edward Dantes, der Held der Geschichte, der nach seinen Gefängnisjahren dann als Graf von Monte Christo auf Rachefeldzug geht, ist ja ein relativ junger Mann Mitte 30 …
Ich beginne die Geschichte auf Chateau d’If, wo Dantes für 14 Jahre im Kerker sitzt. Und man weiß ja, wie Kerkerhaft den Menschen verändert und altern lässt. Da gibt es drei große Arien für Dantes, und dazwischen habe ich einen Chor gelegt, der gewissermaßen als „Zeitbeschleunigungsmaschine“ fungiert, das heißt, er singt, wie die Jahre vergehen… Im ersten Teil ist der Abbé Faria sein Partner, im zweiten Teil gibt es dann einige Rache-Episoden.
Und nimmt Placido Domingo Anteil am Fortschreiten der Oper?
Sehr sogar. Gerade letzte Woche, als er für den Philharmoniker-Ball in Wien war, sind wir zwei Nachmittag lang zusammen gesessen und die Partitur durchgegangen, und vor allem in seinen Passagen hat er mir gesagt, wie er sich dies und das für seine Stimme vorstellt. Ich schreibe den Dantes natürlich für ihn, den „Bariton“, der er ja auch in seiner Jugend war und heute wieder ist, der aber noch immer die starke Höhe hat. Später werde ich aber eine Tenorfassung für den Grafen von Monte Christo erstellen, weil ich denke, manche Rollen verlangen das – mich überzeugt ja auch die Tenor-Fassung des „Werther“ mehr als die baritonale…
Und gibt es Uraufführungspläne?
Das überlasse ich Placidos Verhandlungsgeschick, ich weiß jedenfalls, dass er sich das Theater an der Wien als Uraufführungsort wünschen würde, aber wer weiß, was wird? Mir gegenüber haben jedenfalls Ruth Mackenzie von der Pariser Chatelet Oper und Jean-Louis Grinda von der Opera Monte Carlo ihr Interesse bekundet, also bin ich zuversichtlich.
Sie haben einmal in einem Interview erwähnt, Sie wollten gerne 20 Opern schreiben… da müssen Sie ja schon etwas über den fast fertigen „Grafen von Monte Christo“ hinaus im Kopf haben?
Ich muss sagen, dass zwei weitere Projekte schon sehr weit gediehen sind. Das erste ist eine Oper über die französische Tibet-Forscherin Alexandra David-Neel, die interessanterweise in ihrer Jugend Opernsängerin war. Ich stehe in Verbindung mit ihrer Nachlassverwalterin, da habe ich einen Brief gefunden, den Massenet an sie geschrieben hat! Die Dame ist 101 Jahre alt geworden, 2018 ist ihr 150. Geburtstag, 2019 ihr 50. Todestag, ich hoffe, dass die Oper dann zur Aufführung kommt. Und dann schreibe ich schon lange an einer Napoleon-Geschichte für Roberto Alagna. Sie war ursprünglich für ihn und seine damalige Gattin Angela Gheorghiu gedacht und sollte von Napoleon und Josephine handeln. Mittlerweile möchte Roberto gerne, dass es die Geschichte von Napoleon und der Gräfin Walewska behandelt, da seine derzeitige Frau Aleksandra Kurzak ja Polin ist… Ich frage mich sehr, welche Form das haben soll – man kann keine ernste Napoleon-Oper schreiben, das wäre vom historischen Hintergrund mit all den Kriegen einfach zu schwergewichtig. Aber eine Operette oder, besser noch, ein Musical, durchaus im Broadway-Stil, könnte ich mir gut vorstellen… und Roberto, wie ich weiß, auch.
Noch einmal zurück zum Dirigenten Chaslin. Sie haben in der ganzen Welt mit Regisseuren aller „Handschriften“ zusammen gearbeitet. Haben Sie, wie mancher Dirigent, Schwierigkeiten mit „Regietheater“-Aufführungen?
Für mich ist wichtig, dass ein Regisseur die Partitur gut kennt, einen richtigen Sinn für Theater und Dramaturgie hat, und gleichzeitig das zeigt, was das Stück meint, im Sinne des Komponisten und des Librettisten. Aber dazu sollte er durchaus auch provokant ein neues Licht auf das Werk werfen. In diesem Sinne habe ich vielleicht die beste Erfahrung meines Lebens gemacht, als ich mit Stefan Herheim „Hoffmann Erzählungen“ in Kopenhagen machte. Diese Inszenierung hatte alles, was ich mir von einem Regisseur erträume. Es freut mich also wahnsinnig zu hören, dass er bald das Theater an der Wien übernimmt.
Kommen wir nun zu einer weiteren Facette Ihres reichhaltigen Künstlerlebens. Ihr Buch „Auf der Suche nach dem neuen Klang“ gibt es auch auf Deutsch, eine sehr interessante Auseinandersetzung auch über moderne Musik und warum sie dem Publikum so schwer fällt. Und Sie haben auch – noch nicht auf Deutsch erschienen – einen Roman über Gustav Mahler geschrieben. Wie kam es dazu?
Meine Vorliebe für Gustav Mahler geht Jahrzehnte zurück, und eine meine Fixierungen ist auch seine unvollendete, großteils nur in Skizzen überlieferte Zehnte Symphonie. Der Roman „On achève bien Mahler“ handelt von dem fiktiven Kapellmeister Cornelius Franz – in dem vielleicht ein kleines Stück von mir selbst steckt. In dessen Kopf nistet sich der tote Gustav Mahler ein und gibt ihm die Idee, seine, also Mahlers Zehnte Symphonie zu vollenden. Franz weiß sehr wohl, dass es Abgründe gibt zwischen Talent und Genie, aber Mahler treibt ihn an – sei nicht so faul, mach Dir nicht so viele Sorgen, sei nicht so vernunftgesteuert, sondern ein bisschen verrückt, sei nicht so bequem… versuch es! Nun ist das, als ob man einen Ferrari-Motor in einen Trabant einbaut, aber ich habe als Musiker die Erfahrung gemacht, dass „Genie“ durchaus nicht von Anfang an da sein muss. Wolfgang Wagner hat mir einmal eine Komposition des 20jährigen Richard Wagner gezeigt, und die hätte gar nichts versprochen. Was Wagner geworden ist, beruht auch auf seinem eisernen Willen, „Wagner“ zu werden. Und folglich lässt sich auch ein Cornelius Franz die Idee durch den Kopf gehen, die Zehnte Mahler zu vollenden. Was auch ich versucht habe…
Sie sind der Erste nicht…
Nein, es gab mehrere Anläufe, verschiedene Versuche, und keine befriedigt mich, also habe ich meine Version geschaffen. Und als ich eine Einladung aus Zagreb bekam, mit dem dortigen Orchester ein Konzert zu bestreiten, kam mir das als gute Gelegenheit über den Weg, „meine“ Zehnte Mahler zur Uraufführung zu bringen, was jetzt am 18. Dezember 2018 geschehen wird.
Und noch eine Frage zu Ihrem schier unglaublich vollen Künstlerleben: Sie waren Generalmusikdirektor der Opéra de Rouen, Generalmusikdirektor des Nationaltheaters Mannheims, Chefdirigent der Santa Fe Opera und nun sind Sie bereits seit vielen Jahren Musikdirektor des Jerusalem Symphony Orchestra. Wie schafft man das?
Indem man sich den Kalender doch nicht allzu voll stopft. Es gibt Kollegen, die sind stolz darauf, dass sie über Jahre hinweg kaum eine freie Woche haben. Das wäre nichts für mich, das verstehe ich nicht unter Leben. Man muss tun, was wichtig ist, und Jerusalem ist mir wichtig, obwohl ich nicht weiß, wie lange das noch weiter gehen wird – denn es gibt in Israel wenig Geld für Kultur, und ich muss leider sagen, auch zunehmend weniger Interesse. Früher konnte man von einem Konzert drei Aufführungen spielen und sie waren voll, heute kaum noch eine, und da kommen dann auch vor allem ältere Leute und keine jungen. Ich hoffe sehr, dass sich daran etwas ändert…
Letzte Frage: Wie ist das mit Wagner in Israel?
Leider ein Jammer. Er ist verboten. Nicht als fest geschriebenes Gesetz, aber als Vorgabe, an die sich jeder hält. Für mich ist das sehr bedauerlich, vor allem, weil alte Leute – auch Holocaust-Überlebende – mit Wagner überhaupt kein Problem haben. Es sind fanatisierte Junge, die nur hören müssen, das war Hitlers Lieblingskomponist, um ihn heftig abzulehnen, ohne auch nur einen Ton von ihm zu kennen… Meine Musiker und ich, alle 95 Mann, machen uns manchmal eine Freude: Wenn wir etwas Zeit übrig haben, schieben wir einen Wagner ein, nur für uns. Und spielen eine Ouvertüre oder Karfreitagszauber oder Isoldes Liebestod…
Herr Chaslin, viel Erfolg für alle Ihre Vorhaben zwischen Opernball und Opernrepertoire, zwischen dem „Grafen von Monte Christo“, den wir vielleicht auch in Wien hören werden, und „Ihrer“ Zehnten Mahler!