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Franz Welser-Möst: ALS ICH DIE STILLE FAND

17.09.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Franz Welser-Möst:
ALS ICH DIE STILLE FAND
Ein Plädoyer gegen den Lärm der Welt
Notiert von Axel Brüggemann
194 Seiten, Verlag Brandstätter, 2020

Das Wiener Comeback des Franz Welser-Möst beschränkt sich nicht nur auf seine Rückkehr an das Pult der Wiener Staatsoper, wo er schon vor dem Beginn der „Elektra“-Vorstellung mit frenetischem Applaus begrüßt wurde – ein nicht alltägliches Willkommen. Zu seinem 60. Geburtstag am 16. August gab es allseits Jubelartikel. Mögen früher manche – wie Axel Brüggemann – gemault haben, „Warum sind Sie so langweilig, Herr Welser-Möst?“, so steht das mittlerweile außer Debatte. Vor allem, wenn man das Buch liest, das Welser-Möst nun (mit Hilfe des erwähnten Herrn Brüggemann) vorlegt: „Als ich die Stille fand“ mag schon wieder „langweilig“ klingen, ist aber für Musikfreunde eine über die Maßen spannende Lektüre.

Es ist ein Buch, das auf vielen Ebenen funktioniert. Auf der ganz privaten, wenn es mit dem Unfall beginnt, bei dem der 18jährige so schwer verletzt wurde, dass seine Träume, Geiger bei den Wiener Philharmonikern zu werden, sich erledigten. (Das für die damalige Zeit nicht unbeträchtliche Schmerzensgeld hat er in Büchern und Partituren angelegt.) Tatsächlich erzählt Welser-Möst (geboren als Franz Leopold Maria Möst in Linz, aufgewachsen in Wels, den „Künstlernamen“ verdankt er seinem ersten Agenten) auch Anekdotisches aus seinem Leben: von der Ururgroßmutter Katharina Dommayer aus der berühmten Kaffeehausfamilie, die angeblich für die Schratt das Rezept des Kaisergugelhupfs für Franz Joseph erfand; oder dass er selbst seiner Frau vor der Hochzeit sagte: „Auch wenn ich dich über alles liebe, die Musik wird bei mir wohl immer an erster Stelle stehen.“ (Sie hält das aus.) Und ein bisschen darf man auch in seine Bibliothek in seinem Haus am Attersee blicken… Und dass er zur Entschlackung jedes Jahr eine F.-X.-Mayr-Kur macht, erfährt man auch. Sonst ist da schon mehr Ernsthaftigkeit als Schmankerltum.

Aufgewachsen in einer Familie, wo Musik ein ganz wesentlicher Bestandteil des Lebens war. Tragödien, als der Vierjährige den Tod einer kleinen Schwester miterleben musste und sich bald den Kopf über Gott und Religion zerbrach. Wie das „verträumte Kind“ am Linzer Musikgymnasium vor allem durch den Einfluß seines Lehrers Balduin Sulzer erwachte.

Wenn es dann zu den Stationen seiner Karriere geht, denkt Welser-Möst gar nicht daran, etwas zu beschönigen. Das, was er als seine „Lehrzeit“ in London bezeichnet, war das härteste, was er je durchgemacht hat. In den sechs Jahren als Leiter des London Philharmonic Orchestra hat er sich jede Menge schlechter Kritiken und unglaublichen Widerstand eingehandelt. Kurz, er ist auf die Nase gefallen. Gelernt hat er allerdings eines – dass man auch weggehen kann. An der Wiener Staatsoper hat er es später wieder durchgezogen.

Viel glücklicher waren die Jahre an der Oper in Zürich, wobei er mit Alexander Pereira „konnte“ (auch wenn dieser schwierig war) – mit Dominique Meyer an der Wiener Staatsoper hingegen gar nicht, eigentlich von Anfang an. In ihren ästhetischen, künstlerischen und konzeptionellen Ansprüchen kamen sie nicht zusammen – und menschlich noch weniger. Die Wiener kennen die Geschichte, sie haben sie am eigenen Leib miterlebt. Sie waren auch bei seinen Neujahrskonzerten dabei (wo dem Dirigenten schon die Nerven am Boden schleifen können) und seiner Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern…

Ja, und da ist noch Cleveland, wo Welser-Möst seit 1999 überaus glücklich das Orchester leitet, eine Aufgabe, die in diesem Buch breiten Raum einnimmt, auch, um die anderen Zustände im amerikanischen Musikleben zu erklären.

Zum Biographischen zählen wohl auch noch seine zahlreichen philosophischen Überlegungen zur Stille, die er der überlauten Welt heute gegenüber stellt (und die er bei jeder Gelegenheit sucht). Im übrigen hat Welser-Möst Ausführliches zu Grundsätzlichem zu sagen: Über Manager (die nur ans Geld denken) und Kritiker (und deren Machtmissbrauch), über den Event-Zirkus und das heute gepflegte oberflächliche Startum der Sänger, über einen irreleiteten Nachwuchs, dem man eher beibringt, wie man sich selbst vermarktet, als ihnen gewissenhafte Ausbildung angedeihen zu lassen, über das Regietheater (wobei er zu den gelungenen Produktionen Harry Kupfers Salzburger „Rosenkavalier“ und Castelluccis „Salome“ neben einander stellt…). Es gibt für ihn Schreckensbeispiele der Anbiederung (Konzerthäuser, die um ein junges Publikum buhlen und damit werben, dass man bei ihnen während der Konzerte twittern könne) und auch der Verbilligung der klassischen Musik – nach den „Drei Tenören“ wollte jeder nur noch „Classic light“ aufbereitet haben.

Wenn Welser-Möst sich fragt, ob die Zeit der tyrannischen Dirigenten vorbei sei, erzählt er viel über Karajan, über Bernsteins Charme, über Celibidaches Gnadenlosigkeit, und er bekennt, dass nicht nur die ganz „Großen“ Vorbilder sein können, sondern auch Männer wie Kurt Wöss, der in Oberösterreich so Hervorragendes geleistet hat (wobei er dessen Nazi-Zeit nicht verschweigt). Jedenfalls hat Welser-Möst die Geschichte seines Berufsstandes – wie so vieles andere – im kleinen Finger. Und auch daran, wie man eine Interpretation erarbeitet (hier am Beispiel von Beethovens „Neunter“ und des „Rosenkavaliers“), lässt er den Musikfreund teilhaben.

Schließlich findet man auch bei ihm, wie zuletzt in Büchern von Nikolaus Harnoncourt und Rudolf Buchbinder, die wirklich tief greifende Klage, dass im heutigen normalen österreichischen Schulsystem für Musikunterricht kein Platz ist – und er erklärt uns lange (auch mit wissenschaftlichen Belegen), wie unendlich wichtig Musik für jedes Leben ist.

Er selbst ist ein Beweis dafür – und bietet Musikfreunden Stoff zum Nachdenken und zum Diskutieren noch und noch.

Renate Wagner

 

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