Heide Stockinger / Kai-Uwe Garreis (Hg.)
DEIN IST MEIN GANZES HERZ
Ein Franz-Lehar-Lesebuch
230 Seiten, Böhlau Verlag, 2020
Zu einem sehr runden Geburtstag, und Franz Lehar wurde 1870, also vor 150 Jahren geboren, gibt es üblicherweise eine neue Biographie (und es gibt sie, enorm umfangreich auch noch). Wenn zusätzlich Sammelbände aufgelegt werden, die sich ausführlich einzelnen Aspekten eines Lebens widmen, ist man an kritische Auseinandersetzungen gewohnt.
Nicht hingegen „Dein ist mein ganzes Herz“, herausgegeben von Heide Stockinger und Kai-Uwe Garrels. Da hat sich offenbar ein mehr oder minder in Oberösterreich verorteter Fanclub zusammen gefunden, um zu Einzelaspekten Interessantes beizutragen – wobei man sich dem Meister absolut huldigend nähert. Nun ja, mit seinen vielen Jahren, die er in Bad Ischl im oberösterreichischen Salzkammergut verbracht hat, ist Lehar ja der zweite „Kaiser“, den diese schöne kleine Stadt ihr eigen nennt – in alle Ewigkeit.
Drei der im Ganzen acht Kapitel, die hier versammelt sind, erweisen sich als besonders interessant. Eines, aus der Feder von Herausgeberin Heide Stockinger, bezieht sich auf Lehars „Singspiel“ namens „Friederike“ aus dem Jahre 1928. Damals waren, so wird anschaulich geschildert, die Librettisten Fritz Löhner-Beda und Ludwig Herzer verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Operetten-Stoff. Vielleicht könnten sie das Leben irgendeines Berühmten ausschlachten, überlegten sie, Napoleon, Beethoven, Goethe… und da schlug es angeblich wie ein Blitz ein: Sesenheim! Friederike Brion! Der junge Goethe und seine Liebe…
Franz Lehar war von dem Stoff nicht so leicht zu überzeugen, möglicherweise ahnte er die Einwände, die auf ihn zukommen würden, aber dann warf er sich in die Geschichte – und es wurde sein persönliches Lieblingswerk. Er war überzeugt, dass gerade „Friederike“ – mit Richard Tauber und Käthe Dorsch in Berlin hochkarätig uraufgeführt – nie vergessen werden würde. Da irrte er – heute spielt niemand mehr das Werk. Einst war es Anlaß für mediale Schlachten, die hier genau beschrieben werden und in die Welt von 1928 hinein leuchten.
Was hatte Lehar getan? Goethe als Liebhaber auf die Musikbühne zu bringen, war eine Todsünde in den Augen vieler. „Goethe als Heulepeter“, wettert man nach der Uraufführung. Dennoch: Trotz der Konkurrenz der „Dreigroschenoper“ blieb „Friederike“ damals das erfolgreichste Werk in Berlin (das Publikum ließ sich von bösen Kritikern nicht vergrätzen). Aber auch in Wien 1929 gab es wütende mediale Proteste: „Entweihung des großen Olympiers!“ Karl Kraus, der Lehar leidenschaftlich hasste, ätzte, man werde einmal wissen, „dass Goethe der war, den Tauber gesungen hat“.
So erfolgreich „Friederike“ rund um ihre Entstehung war, „mein liebstes Werk“, wie Lehar es nannte, ging es nach dem Krieg unter. Auch heute täte man sich mit einem Goethe als Operettenhelden schwer … selbst „Schwammerl“ Schubert schafft es nur noch selten auf die Bühne. Es waren andere Zeiten und Welten.
Librettist Fritz Löhner-Beda ging im Konzentrationslager zugrunde. Er spielt eine große Rolle in dem vom Wolfgang Dosch verfassten Kapitel über die „Rastelbinder“, die Arisierung und die „braune Nachrede“, eines der heikelsten Themen in der Lehar-Geschichte. Denn es wurde Lehar wiederholt quasi persönliche Schuld daran zugeschrieben, dass Löhner-Beda nicht „gerettet“ werden konnte, weil er sich angeblich nicht für ihn einsetzte… Lehar hatte im Dritten Reich den unendlichen Vorteil, dass Hitler seine „Lustige Witwe“ liebte, was ihm neben Wagner den später so verheerenden Beinamen des „Lieblingskomponisten des Führers“ eintrug. Diesen Vorteil nützte er für seine jüdische Frau, die (wenn es sein musste, wussten sich die Nazis in der Judenfrage durchaus zu helfen) zur „Ehren-Arierin“ ernannt wurde. Als allerdings der Wunsch aufkam, seine Operette „Die Rastelbinder“ zu arisieren (wer wollte im Dritten Reich schon fesche Slowaken und einen lustigen Juden auf der Bühne sehen?), wehrte sich Lehar nur deshalb nicht nachdrücklich, weil der Auftrag an Rudolf Weys ging, der seinerseits eine jüdische Frau zu retten hatte… In der Folge sammelt Autor Dosch alle „jüdischen“ Stimmen, die sich zu Gunsten von Lehar ausgesprochen haben, um ihn von der Nazi-Kollaboration frei zu sprechen. Die Zeugnisse sind zahlreich und klingen immerhin überzeugend.
Der dritte hoch interessante Artikel stammt von dem zweiten Herausgeber, Kai-Uwe Garrels, der aus dem Nachlaß von Richard Tauber dessen O-Ton-Berichte über die Zusammenarbeit mit Franz Lehar hervorholte. Tatsächlich verband die beiden Männer eine symbiotische Beziehung, die auf Freundschaft und Wertschätzung beruhte, und wenn Lehar seine großen Schlager für ihn schrieb, „Tauber-Lieder“ genannt, dann hatte der Tenor Mitspracherecht. Er konnte sich rühmen, eine wahre Quelle der Inspiration für den Komponisten zu sein – ein Glücksfall für beide.
Andere Kapitel des Buches befassen sich mit Lehars frühen Jahren, die vor der „Lustigen Witwe“ noch nicht die außerordentliche Stellung ahnen ließen, die der Komponist einmal in der Welt der Operette einnehmen würde. Eduard Barth hatte des Glück, durch Zufall in Triest die italienische Fassung einer Lehar-Operette zu erleben. Darüber hinaus wird man zu Spaziergängen durch die (wie man aus eigener Erfahrung weiß: unglaublich überladene) Lehar-Villa in Ischl eingeladen, desgleichen in das Lehar-Schlössl in Döbling, das davor Emanuel Schikaneder gehört hatte.
Pech hatte Michael Lakner: Der Intendant, der sich rühmen kann, im Jahr 2004 die „Operettenfestspiele Bad Ischl“ in „Lehar-Festival Bad Ischl“ umgetauft zu haben und dort erfolgreich Lehar-Raritäten hervorholte, kündigt für den Sommer 2020 fix „Der Blaue Mazur“ für die Bühne Baden an, zum 100. Geburtstag dieses vergessenen Werks. Als dieses Buch in Druck ging, konnte man nicht ahnen, wie schnell sich die Welt durch „Corona“ verändern würde. Dass es Franz Lehar, wenn alles vorbei ist, allerdings nach wie vor geben wird – das muss nicht bezweifelt werden.
Renate Wagner