FRANKFURT / Städel Museum:
REMBRANDTS AMSTERDAM – GOLDENE ZEITEN?
(bis 23. März 2025)
Die im Dunkeln
Das 17. Jahrhundert wird von den Niederländern stolz als ihr goldenes bezeichnet: Gouden Eeuw (wie übrigens das Siglo de Oro bei ihren großen Gegnern, den Spaniern). Und tatsächlich: Nachdem sie das spanische Joch abgeschüttelt hatten, blühte ihr Gemeinwesen „in nie gekanntem Frieden“ (wie es in „Don Carlos“ heißt). Der „Abfall der Niederlande“ (Schiller) war die Voraussetzung für den Aufstieg Amsterdams zum größten Hafen-Umschlagplatz Europas, der an die Stelle des unter spanischer Herrschaft gebliebenen Antwerpen trat.
Es war die Basis für eine beispiellose kulturelle Entwicklung, vor allem in der Malerei, wie sie sich in dem Dreigestirn Frans Hals – Rembrandt – Vermeer manifestiert. Dieses Trio ist auch heute noch ökonomisch ein Garant für klingelnde Museumskassen, wenn einer der Namen im Ausstellungstitel auftaucht. Das mag auch für das Städel Museum eine Verlockung gewesen sein, Erwartungen im potenziellen Publikum zu erwecken. Erwartungen, die aber durch das Fragezeichen im Untertitel gleich wieder konterkariert werden: Ganz so billig – mit der x-ten Rembrandtausstellung – will es ein in Großausstellungen so erfahrenes wie erfolgreiches Institut nicht geben.
Also hat man eine berühmten Brecht-Zeile als unsichtbares Motto über diese Schau gestellt: „Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Besser gesagt: Man versucht, diese Aussage zu widerlegen und die Aufmerksamkeit auch auf die im Dunklen zu richten.
Eine Rembrandt-Ausstellung ist es definitiv nicht. Erst im zweiten Stock der Schau trifft man auf den gefeierten Großmeister. Und zwar mit voller Wucht, genau den Intentionen der Ausstellungsmacher entsprechend: Von dem düsteren Spätwerk „Die Anatomie-Vorlesung des Dr. Jan Deijman“ hat ein Brand den Großteil des Werkes vernichtet. Der berühmte Namensträger, der Anatom Deijmann, ist nur mehr in den operierenden Hände präsent, während man dem sezierten Leichnam in den offenen Magen und auf das gerade bloßgelegte Gehirn blickt. So grausam blutig die Szene anmutet, gewinnt die Darstellung ein anderes Gewicht, wenn man durch eine kleine Abbildung daneben auf das Vorbild hingewiesen wird: Mantegnas radikal verkürzter Leichnam Christi von 1480. Auf diese Weise verleiht Rembrandt dem exekutierten Verbrecher noch posthum eine besondere Dignität.
Sein Gefühl für Außenseiter der Gesellschaft beweisen auch die Radierungen. Er hat sich unverkennbar selbst als Bettler dargestellt und porträtierte auch Rattenverkäufer, Invalide und Bettelmusikanten – nicht als Karikaturen, sondern „naer het leven“ mit dem anteilnehmenden, aber unbestechlichen Blick für die Wirklichkeit. Diese Einzeldarstellungen bilden schließlich den Fundus für die vielen Gestalten im berühmten radierten Hundertguldenblatt mit der Predigt Christi vor den Armen und Kranken.
Besonders anrührend ist die Geschichte der verurteilten Mörderin Elsje Christiaens. Ihren am Galgen neben der Tatwaffe aufgehängten Leichnam zeichneten Rembrandt und einige Mitarbeiter seiner Werkstatt 1664 und entreißen sie so dem Dunkel der Geschichte. Die Ausstellung versucht ihr Leben zu rekonstruieren: Sie kam als dänische Einwanderin nach Amsterdam und mietete sich bei einer „Schlafmutter“ ein. Als ihr Geld aufgebraucht war und sie nicht mehr zahlen konnte, beschlagnahmte die Vermieterin ihre wenigen Habseligkeiten. Im Streit erschlug Elsje sie mit einer Axt. Der aufsehenerregende Prozess führte zur öffentlichen Erdrosselung und – strafverschärfend – zur Präsentation des Leichnams auf der Galgeninsel.
Mehr Licht gibt es im ersten, rembrandt-losen Geschoß. Ein Licht, das die Amsterdamer Bürger auch gerne auf ihre sozialen Wohltaten richteten, indem sie diese in großformatigen Bildern feierten. Die „Alteratie“ von Amsterdam 1578 bedeutete die Ersetzung der spanisch-katholisch gesinnten Stadtregierung durch calvinistisch gesinnte Regenten. Damit wurden auch die zahlreichen Klöster frei, die nun zu sozialen Einrichtungen mutierten, zu staatlich betriebenen Spitälern und Waisenhäusern. Der Calvinismus sieht in seiner Prädestinationslehre die Auserwählung einzelner Seelen zum Heil oder zur Verdammnis vor. Ein gottgefälliges Leben mit dem Streben nach wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Verantwortungsbewusstsein lieferte einen deutlichen Hinweis, zu diesen Erwählten zu gehören.
Amsterdam schuf also zahlreiche soziale Einrichtungen wie Waisenhäuser, Obdachlosenunterkünfte oder Alters- und Pflegeheime. Die bürgerliche Elite stellte das ehrenamtliche Leitungspersonal, die „Regenten“ und – besonders bemerkenswert für die fortschrittliche Haltung in der Geschlechterfrage – auch „Regentinnen“. Man tat nicht nur Gutes, man feierte sich auch dafür: Die hochentwickelte Amsterdamer Malerei porträtierte seit dem späten 16.Jahrhundert diese Personen. Die Darstellungen der Vorsteher des Leitungspersonals des „Aalmozeniershuis“ (Almosenhaus) bei der alltäglichen Arbeit lehnte sich dabei an die katholische Bildtradition der sieben Werke der Barmherzigkeit an.
Eine andere wichtige Einrichtung war das „Burgerweeshuis“ (Bürgerwaisenhaus). Elternlose Kinder von Amsterdamer Bürgerfamilien erhielten hier Unterkunft, Verpflegung und Ausbildung. Das – calvinistisch geprägte – Ziel: Die Kinder sollten zu gehorsamen und arbeitswilligen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden. Stolz präsentieren sich etwa die Regentinnen des Burgerweeshuis im Gemälde von Jacob Adriaensz. Backer als Beschützerinnen der Waisen, die eine rot-schwarze Uniform tragen (diese findet sich auch noch in dem ebenfalls ausgestellten Gemälde des Amsterdamer Waisenhauses von Max Liebermann aus dem Jahr 1882). Die Ausstellung versucht auch hier die Waisen der Anonymität zu entreißen: Es gelingt ihr mit dem Porträt des „Malle Baandje“ (um 1700), der wegen einer geistigen Behinderung lebenslang im Bürgerwaisenhaus blieb.
Kunsthistorisch bedeutend sind diese Gemälde als Beitrag zur Entwicklung des „Holländischen Gruppenporträts“, einer Bildgattung, die Ende des 19. Jahrhunderts in einer bahnbrechenden Studie vom berühmten Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl analysiert wurde. Die aktuelle Sperre des Amsterdam Museums ermöglichte zahlreiche Leihgaben dieser riesigen Gemälde. Die wichtigsten dieser Bilder zeigen die Schützen, also Bürgerwehren, mit unterschiedlicher Bewaffnung (Hakenbüchsen oder Armbrüsten), wo jeder Porträtierte für sein Abbild zahlen musste. Gut studieren lässt sich im Städel die Entwicklung vom 16.Jahrhundert mit den gleichgereihten Köpfen in einheitlicher Haltung zu den erzählenden Darstellungen eines Festmahles oder des Aufbruches auf Befehl des kommandierenden Hauptmannes im 17. Jahrhundert. Diese letzte Variante findet man im berühmtesten aller Schützenbilder, der „Nachtwache“ von Rembrandt.
Wenn auch dieses Werk weiterhin nur im Rijksmuseum in Amsterdam im Original zu sehen ist, lohnt die Frankfurter Ausstellung den Besuch mit einer interessanten Idee und hochklassigen Exponaten, zugleich mit einem reizvollen Gegenwartsbezug: In einer Bankenmetropole des 21. Jahrhunderts wird eine „Boomtown“ des 17. Jahrhunderts porträtiert.
Alexander Marinovic