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FRANKFURT/ Oper: BIANCA E FALLIERO von Gioachino Rossini

FRANKFURT: BIANCA E FALLIERO von GIOACHINO ROSSINI
5.3. 2022 (
Werner Häußner)

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Foto: Oper Frankfurt/ Barbara Aumüller

Ein gewaltiger Kontinent liegt vor uns. Einige seiner zentralen Orte sind wohlbekannt und häufig frequentiert. Andere liegen abseits, kaum jemand weiß ihre Namen. Zwar gibt es immer wieder – und immer häufiger – Expeditionen an solche entlegenen Stellen, denen aber kaum Neugierige folgen, obwohl ihre Schönheiten gerühmt werden. So bleiben diese Orte unbekannt, das Leben braust an ihnen vorüber.

Der Kontinent, es ist ein musikalischer, heißt Gioachino Rossini. Außerhalb seiner Metropole namens „Il Barbiere di Siviglia“ wird der Verkehr schnell weniger. Es gibt ein paar beschaulichere Vororte, aber zu den vielen weißen Flecken seiner Landkarte verirren sich nur Enthusiasten und Connaisseurs. Die Oper Frankfurt hat sich als eines der großen Repertoiretheater weltweit in den letzten Jahren des kaum erforschten Geländes angenommen und in mittlerweile vier Erkundungsgängen Werke vorgestellt, die sonst vornehmlich bei spezialisierten Festivals begegnen: Nach „La gazza ladra“ 2014 kam fünf Jahre später „Otello“ und kurz vor Ausbruch und als Opfer der Pandemie 2020 „La gazzetta“ – sämtliche in ambitionierten Inszenierungen, kundig dirigiert und fast durchweg auf der Höhe heutigen Rossini-Gesangs besetzt. Jetzt folgt die (vorläufig?) letzte Trouvaille dieser Serie, das 1819 für Mailand geschriebene Melodramma „Bianca e Falliero“.

Und wie im „Otello“ versetzt die Musik des „ernsten“ Rossini in Staunen. Da ist nichts zu hören von der angeblich so heiter-apollinischen Tändelei eines Genießers, der ansonsten als Verfasser (sämtlich verlorener) Gourmet-Rezepte in die Geschichte eingehen sollte. Da sucht man auch vergeblich die in polemischer älterer Literatur so angeprangerten Selbstzitate und leeren Wiederholungen. Nur das Schlussrondo der Sopranistin ist aus der zwei Monate vorher in Neapel uraufgeführten und in Mailand daher noch unbekannten „La Donna del Lago“ übertragen, und eine kurze Bläsersequenz weist voraus auf die Ouvertüre zu Rossinis letzter italienischer Oper „Semiramide“. Dafür hört man aber ausgefeilte Ensembleszenen, ein von Zeitgenossen und Nachfahren vielgerühmtes Quartett und einen dramatisch verdichteten virtuosen Koloraturgesang, dem man höchsten technischen Anspruch vorwerfen könnte, nicht aber sinnleeres Gezwitscher.

Beste Traditionen des Belcanto

Frankfurt hat für die vier tragenden Rollen dieses kammerspielartigen Dramas um familiäre Gewalt, gesellschaftliches Ansehen, starre Ehrbegriffe, erschreckende Übergriffigkeit und verstörende Lieblosigkeit eine Besetzung gefunden, die man sich passender kaum vorstellen kann. Die Europa-Debütantin Heather Phillips (Bianca) und die junge Schottin Beth Taylor (Falliero) knüpfen mit glanzvollem Material und unverkrampftem Timbre an die besten Traditionen des Belcanto der Rossini-Zeit an, verbinden den Stil des Ziergesangs mit modern gedachter Expressivität, ohne die Tugenden einer ausgeglichenen Tonbildung, einer durchweg auf dem Atem getragenen Emission, eines in allen Registern gleichmäßigen Klangs und einer stupenden, unforcierten Geläufigkeit zu missachten. Sicher: Diese Art zu singen setzt nicht auf rhetorische Überwältigung, auch nicht auf kräftig aufgetragene Farben. Aber in der Finesse, im Chiaroscuro der Dynamik, in der Bedeutung des gesungenen Wortes, in der flüssigen, im richtigen Moment akzentuierten Phrasierung eröffnet sie einen Ausdruckskosmos, der sich weit über den bloßen Wohllaut erhebt. Schlicht begeisternd.

Die beiden männlichen Stimmen stehen dem kaum nach. Vor allem Theo Lebow, in seinem übersteigerten Patriarchalismus eine seelisch verkrümmte, autoritäre Vaterfigur, kann mit seinem agilen, an die Herrscherfiguren der älteren Oper erinnernden Tenor den technischen und expressiven Anforderungen Rossinis gerecht werden. Contareno, der Vater, versucht mit allen Mitteln, eine Zweckheirat seiner Tochter mit dem venezianischen Patrizier Capellio durchzusetzen und greift dabei zu allen Mitteln psychischer Gewalt, die sich in einem Feuerwerk gesanglicher Raffinessen entäußern. Lebow erfüllt sie nicht nur bravourös, sondern gibt ihnen auch das nötige expressive Gewicht und macht damit die unbändige innere Wut seines Charakters greifbar.

Capellio lässt sich auf diesen Ehe-Deal ein. Kihwan Sim gibt seiner Rolle ohne Solonummer ein sattes, aber nicht zu breit geführtes Bass-Fundament mit und zeigt seine Tugenden als Ensemblesänger. Sim hat den wohl schwierigsten Charakter der Oper zu gestalten, obwohl Librettist Felice Romani über die Konfliktschablone von persönlicher Neigung und übergeordneter Pflicht hinaus alle vier Protagonisten differenziert zu charakterisieren weiß. Denn Capellio ist über beide Ohren verliebt, besinnt sich aber im entscheidenden Moment der Gerichtsverhandlung gegen seinen Rivalen Falliero auf die Ehre als Richter, der übergeordnetes Recht über persönliche Gefühle zu stellen hat.

Befreit aus patriarchalen Zwängen

Contareno, der Vater, will mit der Hochzeit den alten Glanz seines Namens wieder herstellen und verfolgt dieses Ziel mit einer verbissenen Wut, die seine inneren Zwänge und Nöte ahnen lassen. Im Finale des ersten Aktes, das unverkennbar an die Konstellationen in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ erinnert, richtet sich die Aggression gegen den heimlichen Geliebten seiner Tochter Bianca, der bei der Unterzeichnung des Ehevertrags hereinplatzt. Dieser Falliero ist zwar als Kriegsführer erfolgreich, aber mittellos und daher keine angemessene Partie.

Und Bianca, die Tochter? Heather Phillips gibt ihr nicht nur leuchtend freie Sopranklänge mit, sondern zeichnet auch ihre innere Zerrissenheit nach. Denn anders als heute sind gesellschaftliche Verantwortung und familiäre Bindung noch gewichtige Argumente, wenn es um die Frage nach einem selbstbestimmten Lebensweg geht. Tilmann Köhler baut darauf seine Regie-Idee auf: Er zeigt zunächst ein behütet-verspieltes Mädchen, das Susanne Uhl in rosa Chiffon und silberne Stiefeletten kleidet. Aber die Figur verharrt nicht in der Opferhaltung der lammermoorischen Lucia, sondern wehrt sich, auch wenn sie die Gesellschaft der Männer ins konventionelle Brautkleid nebst Schleier und grauem Blazer steckt.

Am Ende tritt Bianca als Kämpferin von heute ins Rampenlicht. Die Erkenntnis, dass es nie um sie und ihre Liebe ging, sondern immer nur um die Befriedigung des männlichen Begehrens (Falliero/Capellio) und um das gesellschaftlich-materielle Nutzbarmachen (Contareno) treibt Bianca in eine trotzige Selbständigkeit, die freilich auch Isolation bedeutet.

Karoly Risz hat auf die Drehbühne eine Konstruktion aus vier Viertelkreis-Segmenten gestellt, die an Jean-Paul Sartres (im Programmheft zitierte) Beschreibung Venedigs als „Labyrinth aus Schnecken“ erinnert. Die Teile lassen sich zu Halbkreisen verbinden, die sich ineinander drehen können und so eine abweisende, riesige Mauer, Durchgänge oder offene Räume für Szenen mit dem distanziert kommentierenden Chor bilden: neutrale Schauplätze, die für alle möglichen Sujets geeignet wären, und auf die Bibi Abel ziemlich überflüssige Videos von Händen, Gesichtern und Hautlandschaften projiziert, wenn die Musik den Fluss der Zeit anhält und die Personen in sich selbst einkehren. Unter Giuliano Carella pflegt das Frankfurter Orchester eher einen warmen, sanft geschmeidigen als den „typisch“ spritzig-trockenen Rossini-Klang, dem lediglich hin und wieder Attacke und rhythmische Zuspitzung gut getan hätte.

Und wieder einmal ist aus dieser beeindruckenden Rossini-Exploration der Wunsch abzuleiten, es mögen doch auch andere Opernhäuser in die unbekannten Regionen des Schaffens Rossinis vordringen. Frankfurt rüstet sich derweil für eine andere Epochen-Entdeckung: Ab 3. April steht Umberto Giordanos Verismo-Thriller „Fedora“ in einer Inszenierung von Christof Loy im Spielplan.

Werner Häußner

 

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