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François Garde: DER GEFANGENE KÖNIG

28.02.2021 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

buchcover garde der gefangene könig

François Garde
DER GEFANGENE KÖNIG
Roman
336 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2021

Dass ein Mann, elftes Kind eines Gastwirtes aus dem Quercy, König von Neapel wird – das ist fast so unglaubwürdig und großartig wie die Geschichte des ehrgeizigen Advokatensohns aus Korsika, der sich selbst zum Kaiser der Franzosen krönt. Besagter Napoleon, eine der umstrittensten und glitzernsten Figuren der Weltgeschichte, stellt die Nachwelt anlässlich seines 200. Todestags im Mai vor nur ein Problem: Seine Geschichte ist so oft ausgepresst, gedreht und gewendet und erzählt worden, dass man schon neue Aspekte finden muss, um noch Leser zu interessieren.

Aber da ist ja noch seine Umwelt, da sind die Menschen, die in seinem Glanz standen – und immer auch in seinem Schatten. Joachim Murat, ein Junge aus der Provinz, findet heute noch in Neapel Beachtung, dort, wo er kurzfristig einen unfähigen Bourbonen-König abgelöst hat (der ihn später hinrichten ließ) und wo man seine Bemühungen um die Stadt, um das damalige Königreich „Beider Sizilien“, wie es zu dieser Zeit hieß, nicht vergessen hat. Im übrigen gibt es wenige Biographien über ihn und so gut wie keine Aussagen aus erster Hand.

Wenn ein französischer Autor sich heute Murats annimmt, fragt man sich natürlich, warum er keine Biographie schreibt, zumal die vorhandenen schon älteren Datums sind. Aber François Garde wählte die Form eines historischen Romans, wohl, um sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Menschen zu versetzen, von dem man nur Fakten kennt. Es war ein stürmisches Leben – aber wie war Murat?

Garde  umgibt seine Geschichte mit einer Rahmenhandlung, er zeichnet jene letzten sechs Tage im Leben des Joachim Murat, als er in der Festung von Pizzo in Kalabrien darauf wartete, auf Befehl des zurück gekehrten Königs Ferdinand (der Gatte der Maria-Theresia-Tochter Maria Carolina, die damals bereits im Wiener Exil verstorben ist) hingerichtet zu werden. Als ranghöchster Offizier begehrt er letztendlich, den Schießbefehl selbst zu geben, jenes „Feuer!“, das seinem Leben ein Ende setzt.

In der Rahmenhandlung kann sich François Garde am tiefsten in die Gedankenwelt Murats versenken, die er als Schriftsteller und nicht als Historiker sieht. Wenn Murat dann mehr oder minder chronologisch an den Verlauf seines Lebens zurückdenkt, ist der Autor (mit Ausnahme von Dialogen hier und dort) nüchterner, schreibt gewissermaßen eine historische Biographie.

Es ist die abwechslungsreiche Geschichte eines Mannes, der als Soldat so begabt war, dass er Bonaparte ins Auge stach, der zum Marschall avancierte, aber seinen besonderen Rang ja doch der Tatsache verdankte, dass er Napoleons kapriziöse Schwester Caroline heiratete. Das brachte allerdings mit sich, dass er sein Leben lang von Napoleon abhängig war – und sich seine Selbständigkeit, so sehr er sie gewünscht haben mag, nie erkämpfen konnte.

Bekanntlich hat Napoleon mit der Großmannssucht eines Emporkömmlings eine eigene Dynastie gründen wollen, was ihm dank zahlreicher Geschwister und zweier Stiefkinder auch gelang. Er besetzte Throne – Murat, dessen Blick immer in Richtung Italien ging, musste sich zuerst mit dem von Napoleon neu geschaffenen Großherzogtum Kleve und Berg (rund um Düsseldorf) begnügen, das sich als französischer Satellitenstaat nicht lange hielt. 1808 erfüllte sich dann sein Wunsch: Anstelle der vertriebenen Bourbonen wurde er als Gioacchino I. König von Neapel. Und seine ehrgeizige Caroline (deren späteres Verhältnis mit Metternich hier nicht vorkommt) wurde Königin. Die beiden hatten vier Kinder, Achille, Laetizia, Lucien und Louise, denen nach dem Scheitern der Eltern zumindest gelungene Leben nachzusagen sind, die Söhne in Amerika, die Töchter in Europa adelig verheiratet.

Besonderes Augenmerk legt der Autor auf das Verhältnis von Murat (dem seine ganze Sympathie gehört) und Napoleon (über den er wenig Gutes zu sagen weiß): Der General und spätere Kaiser lobte nie und tadelte bei der ersten Gelegenheit, duldete keinen Widerspruch und schlug jeden Versuch der „Emanzipation“ nieder – so, als Murat versuchte, in Neapel selbständig zu agieren und sich von den französischen Bürokratie-Fesseln zu befreien, was Napoleon sofort durchkreuzte. Auch hatte er bei großen Feldzügen Gelegenheit, Napoleon von seiner schlimmsten Seite kennen zu lernen – sowohl in Ägypten wie in Russland absentierte sich der General bzw. Kaiser in ausweglosen Situationen von seiner Armee, kehrte so schnell wie möglich heim und überließ es anderen (in Russland Murat, der die Armee unter schier unglaublichen Bedingungen zurück führen musste), seine Desaster aufzuräumen.

Nach Napoleons Sturz beging Murat, wie er es wohl selbst verstand, den „Verrat“, mit den Österreichern zu verhandeln, um sein Königreich (bzw. sich selbst als König) zu retten, aber als Napoleon aus Elba zurück kehrte (wer wusste schon, dass es nur für hundert Tage sein würde?), war Murat wieder auf dessen Seite, was ihn dann Thron und Leben kostete.

Dennoch, so lässt François Garde seinen Helden in jenen letzten Tagen im Gefängnis sinnieren, hätte er alles in seinem Leben wieder genau so gemacht… Das weiß man nun wirklich nicht, das sind die Überlegungen eines Autors, der einen historischen Roman schreibt. Das Innenleben Murats bleibt ja doch verborgen. Aber die äußeren Fakten, wie man sie geboten bekommt, stimmen.

Renate Wagner

 

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