Sommer-Festivals in Finnland 2018 – 3. Teil
Joroinen Musiktage 20. – 29.7.2018
„Von Klassik bis Rock“ – So betiteln die bereits 1977 zum ersten Mal ausgetragenen Musiktage in Joroinen ihr Programm. Und in der Tat bietet dieses kleine, aber feine Festival, etwa auf der Hälfte des Weges zwischen Mikkeli und Kuopio gelegen, für viele Musikfreunde etwas: Kinderkonzerte, Kammermusik, Sängerrecitals, kleine Theaterproduktionen (Wagners Wesendonck-Lieder kombiniert mit dem 1. „Walküre“-Aufzug), Rockmusik, einen Workshop für Sänger, Flamenco bis hin zu finnischen Opernkaraoke-Meisterschaften (!). Den vermeintlichen Nachteil, keinen Konzertsaal zu haben, macht das Festival dadurch mehr als wett, indem es in den zahlreichen idyllischen Landgutshöfen, in Kirchen und diversen kleinen Sälen spielen lässt. Allerdings sei nicht verschwiegen, dass nicht jeder Austragungsort akustisch günstig genug ist, um die Leistung der Künstler einwandfrei beurteilen zu können.
Dass auch die Freunde schöner und interessanter Stimmen auf ihre Kosten kommen, dafür ist der Künstlerische Leiter JAN HULTIN der beste Garant. Ûber viele Jahrzehnte der Finnischen Nationaloper und als Generaldirektor besonders dem Savonlinna-Opernfestival in leitenden Positionen verbunden, hat er heute als Artist Manager und Senior Advisor der in Deutschland beheimateten Agentur IOA (International Opera Artists) die besten Kontakte zu Sängern. Kein Wunder, dass man bei seinem Festival auf viele Namen dieser Agentur trifft.
Dazu zählt auch die Sopran-Senkrechtstarterin ELENA STIKHINA, die zu Beginn ihrer noch jungen Karriere von IOA vertreten wurde. An ihrem Werdegang kann man ablesen, dass es manchmal sehr schnell mit der Karriere gehen kann, vorausgesetzt, man gewinnt den richtigen Wettbewerb. Dies tat Elena Stikhina, als sie 2016 bei Plácido Domingos Operalia mit Spezialpreisen (nicht ganz unwichtig, u.a. mit dem Publikumspreis) ausgezeichnet wurde, nachdem sie zwei Jahre zuvor in Linz den Wettbewerb Competizione dell’Opera gewonnen hatte. Hatte sie bis 2016 an Festivals wie im bayerischen Gut Immling oder den DomStufen Festspielen von Erfurt teilgenommen bzw. an Opernhäusern wie dem Landestheater Salzburg, Freiburg oder Braunschweig gastiert, so sind es heute Bühnen wie München, Paris oder die Met, an denen sie auftritt. Auch das St. Petersburger Mariinsky-Theater hat sich Elena Stikhina gesichert, nachdem sie zunächst Ensemblemitglied am Primorsky-Theater von Vladivistok war (heute als Mariinsky IV einer der Ablager dieser Bühne). Dort bedient sie (nicht ganz ungefährlich!) ein weit gespanntes Repertoire von Mimi bis Senta und Salome (!).
Obwohl Elena Stikhina bereits an der Finnischen Nationaloper (als Trovatore-Leonora) gastiert hatte, fanden am 22.7. nur etwa 80 Zuhörer in die große, 2200 Personen fassende Kirche von Leppävirta, ein Umstand, der es (mir) sehr schwer machte, ihre vokale Leistung ohne Einschränkungen zu beurteilen. Wäre die Kirche voll oder zumindest gut gefüllt gewesen, wären die akustischen Verhältnisse mit Sicherheit sängerfreundlicher gewesen. So ist zu konstatieren, dass der (zu) hallige Klang, verbunden mit einem die Ohren peinigenden Forte, das Zuhören zur Qual machte, die auch nicht weniger wurde, als ich nach dem ersten Teil einen weiter entfernten Platz suchte.
So lässt sich mit allen Vorbehalten festhalten, dass Elena Stikhina ein überaus interessant timbriertes Material besitzt; im deutschen Fach würde man sie mehr als jugendlich-dramatischen denn als lyrischen Sopran bezeichnen. Ihre Technik scheint sehr gut zu sein, obwohl nicht ohne Schwächen, denn in den von ihr ausgewählten Rachmaninov-Romanzen, die eher einen lyrischen Sopran erfordern, klang die nun instrumentaler geführte Stimme steifer und nicht ganz intonationsrein. Natürlich war es schön, als Zugabe den Bolero aus den „Vespri Siciliani“ mal nicht – wie in Russland häufig praktiziert – von einem leichten Koloratursopran zu hören, doch wie auch bei Delibes‘ „Les filles de Cadix“ fehlte es Stikhina hier an Beweglichkeit. Obwohl die Opernarien des ersten Teils (Norma, Adriana Lecouvreur, Suor Angelica, Trovatore-Leonora, Tatjana) mir insgesamt zu gleichförmig klangen, zeigten sie doch, wo Stikhinas wahre Stärke liegt, in der dramatischen Ausformung einer Partie. Schade, dass die falsche Wahl des Konzertplatzes keine bessere Beurteilung dieser zweifellos sehr talentierten Sopranistin zuließ. Die Kirche von Juva wäre mit Sicherheit besser geeignet gewesen.
Elena Stikhina, Sopran & Pianist Hans-Otto Ehrström (Foto: Joroinen Music Festival)
Ich muss gestehen, dass ich dem nächsten Sängerkonzert etwas entgegenbangte. Von der finnischen Bariton-Legende JORMA HYNNINEN hörte ich in der Vergangenheit so viele unvergessliche Opern- und Konzertaufführungen, dass ich Angst hatte, diese Erinnerungen könnten durch eine schlechte Tagesverfassung eines nun 77jährigen (!!!) Sängers überdeckt werden. Natürlich, in diesem Alter ist jeder Sänger noch mehr als früher von der Tages- oder Abendverfassung abhängig, doch Hynninen ließ die Frage gar nicht erst aufkommen, ob es nicht doch besser für ihn wäre, der aktiven Laufbahn Ade zu sagen. Am 26.7. im Sommertheater von Juva, auf halbem Weg zwischen Mikkeli und Savonlinna, sang er vor ausverkauftem Haus (etwa 200 Zuhörer) unter dem Titel „Lauluja elämästä“ (Lieder aus dem Leben) Lieder der beiden Jubilare Oskar Merikanto und Toivo Kuula (Merikanto vor 150 Jahren geboren, Kuula vor 100 Jahren unter tragischen Umständen ums Leben gekommen), sehr einfühlsam begleitet (ebenso wie auch HANS-OTTO EHRSTRÖM bei Elena Stikhinas Konzert) von ILMARI RÄIKKÖNEN. Der Musikschriftsteller PEKKA HAKO (Autor einer Hynninen-Biografie) steuerte Wissenswertes zu den beiden Komponisten bei.
Jeweils zu Beginn bzw. nach einer der Unterbrechungen zeigte sich Hynninens Stimme etwas spröder, reagierte einen kurzen Moment mehr unter Druck, doch sobald er sich freigesungen hatte, konnte man sich unangefochten dem Genuss dieses immer noch edlen Bariton-Materials hingeben und seiner großartigen Interpretationskunst. Hynninen war Zeit seines Lebens nie „Nur-Sänger“, der seine Stimme bei aller vorhandenen Qualität ausstellte, sondern er war immer mehr Interpret, Vermittler der Ideen des Komponisten, ob er nun in Opern auftrat oder als Konzert- und Liedersänger. Von allen finnischen Baritonen (vielleicht abgesehen von Kari Nurmela) hatte Hynninen den „italienischsten“ Stimmklang (er hatte u.a. bei Luigi Ricci in Rom studiert), war immer dann am eindrucksvollsten, wenn er seinem introvierten Charakter gemäße Aufgaben fand. Hier, in den Miniaturen Merikantos und Kuulas, den beiden finnischen national-romantischen Komponisten), konnte sich Hynninens Kunst bestens entfalten. Dieser Konzert-Nachmittag wird mir unvergesslich bleiben.
Der 77jährige Jorma Hynninen nach seinem Konzert (Foto: Sune Manninen)
Vor diesem Konzert bzw. am nachfolgenden Tag (26./27.7.) hatte ich ein interessantes Projekt besucht. Im Gemeindehaus von Joroinen leitete der Tenor KALLE KOISO-KANTTILA (in Deutschland mehr unter Kalle Kanttila bekannt) einen Workshop seiner Bayerischen Opern-Akademie. Nachdem der Sänger im Jahre 2012 die IOA-Agentur gegründet hatte, ergänzte er sie im vorigen Jahr durch diese in einem kleinen Ort in der Nähe von Passau / Bayern beheimatete Akademie, bei der junge Sängerinnen und Sänger nicht nur Unterricht in Gesangstechnik und Interpretation erhalten, sondern auch die Gelegenheit, am Ende einem renommierten Besetzungsdirektor eines Opernhauses vorzusingen.
Die 8 TeilnehmerInnen des Joroinen-Workshops mit (von links) Kalle Kanttila und Franziska Kaiser, Besetzungsdirektorin am Königlichen Opernhaus Kopenhagen (Foto: Sune Manninen).
Ein solches Vorsingen ist für die meisten Sänger (sofern sie nicht bei einem großen Wettbewerb entdeckt werden) ein unverzichtbarer Schritt, bei dem es sich zeigt, ob sich die jungen Künstler selber richtig einschätzen können, d.h. ob sie wissen, für welches Fach bzw. welche Partien ihre Stimme am besten geeignet ist, und wie sie sich bei aller verständlichen Nervosität, häufig noch unter ungünstigen akustischen Bedingungen, präsentieren sollten. Insofern sollte ein solcher Workshop auf großes Interesse stoßen, und der Erfolg der einmal monatlich in Bayern stattfindenden Veranstaltungen gibt Kalle Kanttila recht, der aus seiner reichhaltigen Erfahrung als (bis vor Kurzem) aktiver Sänger anschauliche Hinweise aus der Praxis für die Praxis geben kann. Die jungen Teilnehmer des 3tägigen Workshops in Joroinen hatten nicht nur Gelegenheit, der Besetzungsdirektorin der Königlichen Oper Kopenhagen, der Schweizerin Franziska Kaiser, vorzusingen, sondern erhielten von ihr auch ein Feedback, wie es bei jedem Gesangswettbewerb eigentlich Pflicht jedes Jurors sein sollte, der man sich aber oft zu gerne entzieht. Zwei der Sängerinnen gefielen (mir) am besten, beide mit individuellem Timbre und guter Technik ausgestattet: die Sopranistin JOHANNA ISOKOSKI und die Altistin IIDA WALLÉN.
Fazit: Ein interessantes Festival, im an Sommer-Festspielen wahrlich nicht armen Finnland zu wenig bekannt, doch immer wieder einen oder mehrere Besuche wert.
Sune Manninen