IM SCHATTEN VON BAMBI
Felix Salten entdeckt die Wiener Moderne
Leben und Werk
Hsg. Marcel Atze, unter Mitarbeit von Tanja Gusterer
496 Seiten, Residenz Verlag, 2020
Die Nachwelt sortiert aus. Es gab um die 1900-Wende Dramatiker in Wien, die viel erfolgreicher waren als Arthur Schnitzler. Wo ist Leo Ebermann geblieben? Es gab Journalisten, die für die Leser viel wichtiger waren als Karl Kraus mit seiner „Fackel“. Wer kennt noch die Namen? Oft ist es die Wissenschaft, die wieder hervorholt, was einst ein erfolgreiches Leben und dann ein vergessenes Nachleben war. Was Felix Salten betrifft, so kennt man „Bambi“, aber nicht viele werden daran denken, dass das kleine Reh aus seiner Feder stammt…
Natürlich war Salten, wie viele seiner Zeitgenossen, ein doppeltes Opfer des Nationalsozialismus. Dieser zwang ihm nicht nur die Emigration auf, er sorgte auch für das Vergessen von so vielen jüdischen Künstlern, auf die man nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zurück griff. Teils, weil man zu Recht so beschäftigt war, das nachzuholen, was man an ausländischer Kultur versäumt hatte. Teils weil die Künstler, die doch noch stark in der Monarchie verankert gewesen waren, als Teil einer überlebten Epoche angesehen wurden.
„Wien um 1900“, das erst im späten Zwanzigsten Jahrhundert wieder modern wurde, bezog sich dann vor allem auf die bildende Kunst, auf eine Wiederentdeckung Gustav Mahlers, teils auch auf die Literatur, wenn ihre kritische Kraft über die Epochen leuchtete wie bei Karl Kraus.
Und Felix Salten? Der ist nun wieder da, 75 Jahre nach seinem Tod im Schweizer Exil in Wien mit einer Ausstellung geehrt. Aber diese ist, wie alle Ausstellungen, vergänglich. Bücher sind es (noch) nicht. Und der riesige, großformatige Band von fast 500 Seiten, der nun im Residenz Verlag vorliegt, arbeitet ein Leben auf, das zumindest durch seinen Fleiß, seine Vielseitigkeit und – vor allem! – durch seine Zeitzeugenschaft bemerkenswert ist.
Einen so reichen dokumentarischen Band konnte man natürlich nur vorlegen, weil es dem Wiener Rathaus gelungen ist, den bis dahin in Zürich bei Saltens Enkelin befindlichen Nachlass des Dichters zu erwerben. Da ist in reichem Maße unikates Material vorhanden, an Dokumenten, an Fotos, an Briefen. Der Band, der am Vorsatz und Nachsatz ungezählte „Bambi“-Umschläge zeigt, die klar machen, wie weltberühmt dieses Buch war, wurde von Marcel Atze herausgegeben, dem Leiter der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus. Zu vier Themen-Schwerpunkten (Biographisches, Netzwerke, Beruf und Werk, Saltens Beziehung zu den Künsten) gibt es Einzelartikel, mit denen man Salten einkreist und auch einfängt.
Die Biographie – das umfasst den „privaten“ Salten. Da ist der kommerziell nicht erfolgreiche, aber das Leben des Sohnes dennoch dominierende Vater, da sind mehrere Brüder, eine überlebende Schwester (die in Theresienstadt umkam). Die Affären mit Dienstmädchen, aus denen uneheliche Kinder stammten, was man mit Geld erledigte. Auch eine wackere Sozialistin und emanzipierte Frau wie Lotte Glas bekam von Salten ein Kind, das allerdings bald starb.
Die Liebe seines Lebens war dann Ottilie Metzl, die Schauspielerin, die für ihn – ungern – ihren Beruf aufgab. Seinen beiden Kindern, dem Sohn Paul und der Tochter Anna Katharina (1904-1977), war er ein liebevoller Vater. Paul, Jahrgang 1903, der als Assistent und Cutter beim Film Karriere machte (u.a. arbeitete er an der französischen Version von Schnitzlers „Liebelei“ mit, an der Salten selbst als Drehbuchautor beteiligt war), starb 1937. Das und der Tod seiner Frau 1942 im gemeinsamen Exil in Zürich waren die großen Tragödien in Saltens Leben.
Seine Tochter und seine Enkelin spielen dann eine große Rolle in dem Abschnitt des Buches, das sich mit der „Josephine Mutzenbacher“ befasst, dem 1906 anonym erschienenen „pornographischen“ Buch. Zuerst ging es der Familie – vertreten durch Anna Katharina Saltens zweiten Mann, Veit Wyler – eigentlich darum, Saltens „Ehre“ zu retten und ihn von der allseits behaupteten (und von Zeitgenossen als sicher angenommenen) Verfasserschaft rein zu waschen. Später allerdings erkannte die Familie, dass hier ein wahres Vermögen an Tantiemen zu holen wäre, könnte man umgekehrt beweisen, dass Salten das Buch geschrieben hat. Es war eine unendliche Geschichte, in einem Artikel von Murray G. Hall ausführlich nachgezeichnet, die schließlich im Nichts endete: Weder das eine noch das andere – Salten als Autor oder nicht – war so zu beweisen, dass es vor Gericht stand gehalten hätte.
Seilschaften, einst so wichtig wie eh und je und heute, pflegte Salten mit Zeitgenossen, wenn auch nicht alle (Karl Kraus bestimmt nicht) seine Freunde waren und die Beziehung zu anderen (Arthur Schnitzler, der ihm Adele Sandrock als Geliebte abtrat) bestenfalls schwankend waren. Saltens Briefe klingen stets echt und herzlich, aber er wusste (etwa im Fall des Verlegers Paul Zsoilnay) Beziehungen zu nützen.
Elementar war Saltens Engagement für jenen Zionismus, den Theodor Herzl als sein Zeitgenosse von einer Idee zur Realität gemacht hatte – und der damals gänzlich umstritten war. Während Männer wie Schnitzler diese Bewegung gänzlich distanziert betrachteten, fuhr Salten – ohnedies ein leidenschaftlicher Reisender – selbst nach Palästina zum Lokalaugenschein. Für Salten, der über alles schrieb, wurde alles mindestens zum Zeitungsartikel, oft auch zum Buch.
Dass er ein Allround-Schreiber war, wird auch detailliert behandelt – Journalist, Prosa, Dramen, Operette, Film. Er äußerte sich zu Literatur, Musik, bildender Kunst.
All das ist, wie erwähnt, reich bebildert, ermangelt also nur einer ausführlichen Zeittafel, was angesichts der Fülle von Ereignissen in diesen Leben zur Übersicht sinnvoll gewesen wäre. Am Titelbild hat man ein Schwarzweißfoto von Salten „halbiert“ und die andere Hälft koloriert. Und genau das ist gelungen – ein mittlerweile verblasstes Leben , das hier farbig und lebendig gemacht wurde.
Renate Wagner