Felix Mitterer
KEINER VON EUCH
Roman
344 Seiten, Haymon Verlag, 2020
Zeit seines Lebens ist Felix Mitterer mit gut gemachten und teils viel gespielten Gebrauchsstücken fest in der österreichischen Theaterlandschaft verankert gewesen. So richtig populär wurde er einst mit der „Piefke-Saga“ für das Fernsehen, weil sie für Wirbel sorgte – und ein weiterer Teil davon ist derzeit in Arbeit. So überrascht es, dass er auf seine späteren Tage (den Siebziger hat er hinter sich) nun seinen ersten Roman schrieb, den „ersten und einzigen“, wie er betont – vermutlich, weil auch das Thema immer für eine Erregung gut ist und seine immer vorhandene soziale Ader anspricht, das Mitleid mit der schwachen Kreatur.
Dennoch gibt es einige Einwände, nicht nur, dass Angelo Soliman, der „Parade-Schwarze“ der österreichischen Geschichte, absolut kein Unbekannter ist. Das Schicksal dieses Sklaven (ca. 1721-1796), der „Karriere“ machte und schon zu Lebzeiten sehr bekannt war, ist immer wieder in Literatur und im Film auf und ab behandelt worden – und nicht immer so frei wie bei Mitterer, der so gut wie alles erfindet. So dass er sich eigentlich nur auf den historischen Angelo Soliman berufen kann, wenn er ihn in das Wien seiner Zeit einbettet.
Wobei man den Eindruck gewinnt, die Hauptfigur selbst hätte Mitterer eher am Rande interessiert. Ganz ausführlich treten Kaiser Joseph II. (in Mitterers Sicht) und ein erfundener Arzt in den Mittelpunkt: Dieser „Professor Ernst Hoffmann“ ist ein Mittelding zwischen dem gnadenlosen Wozzeck-Arzt und den Nazi-Ärzten, die am lebenden Objekt Experimente vollzogen, wie einer klassischen Verbrecherfigur, die wie ein schwarzer Teufel des Kinos (in einem nicht wirklich guten Film) intrigant herumfegt…
Mitterer erzählt das Schicksal seines Mmadi Maké (das ist der erfundene afrikanische Name, den er dem Jungen gibt, der ein Häuptlingssohn war und von Sklavenhändlern nach Sizilien verkauft wird) mit „verschiedenen Rollen“ und ist überhaupt sehr „dramatisch“ (bis überzogen überdramatisch). Dass der Junge, den man „Angelo Soliman“ nannte und taufte, in Messina von einer Adeligen gekauft wurde, ist noch verbürgte Tatsache – der Rest Erfindung.
Als erste Erzählerin erlebt man seine Tochter Josephine, die in einem Kloster in Messina lebt und 1801 von dort flieht, als sie hört, dass ihre Eltern, die sie tot wähnte, in Wien (angeblich) noch leben. In Wien findet sie die Mutter im Irrenhaus von Professor Hoffmann, wird mit der Irren eingesperrt und darf deren Tagebuch lesen. Diese Aufzeichnungen von Clara Soliman, geborene Komtesse Pietrasanta (erfunden), sind ein Hauptstück des Buches. Das achtjährige Mädchen „verliebt“ sich in den kleinen Negerjungen, der 1759 ins Haus ihrer Mutter kommt, aber über kurz oder lang nimmt der Fürst von Thurnstein (erfunden) den schönen schwarzen Buben, den er pädophilisch liebt, mit nach Wien. Als Clara zwanzig Jahre später nach Wien kommt, um den Fürsten zu heiraten, der längst eine Ruine und ein berüchtigter Kinderschänder ist, trifft sie Angelo wieder – ewige Liebe ihrerseits, er möchte seine nicht gestehen.
Es ist gewaltig, was Mitterer in den Roman hinein schaufelt, der auch noch die Aufzeichnungen des verrückt-überdrehten Arztes und die von Soliman selbst enthält. Da erlebt man Angelo und Kaiser Joseph II. im Bordell am Spittelberg mit ihren Damen (Maria Theresia sitzt in ihrem Krankenbett und schäumt), da hat Angelo eine sexuelle Begegnung mit der herausfordernden Constanze Mozart, Kaiser Joseph ein Verhältnis mit Clara, die von ihrem impotenten Mann nicht einmal vergewaltigt werden kann, und der kleine Mozart ist auch irgendwo frech im Hintergrund (mit einem falschen Zitat bezüglich der Noten – „gerade so viel wie nötig sind, Majestät“, soll er ja wohl gesagt haben).
Vor allem aber geht es darum, dass Professor Hoffmann an Angelo seine Studien bezüglich der „Wilden“ vornehmen will, dass er mordet, um diesen in seine Gewalt zu bekommen, dass er ihn hypnotisiert, um dessen Erinnerungen an seine afrikanische Kindheit hervorzurufen, dass er – obwohl selbst (erfundenerweise) Freimaurer – die Loge, in die Soliman aufgenommen wird (ein historisches Faktum), schließen lässt… Kurz, er ist immer da, um das Leben des armen, braven Schwarzen zu zerstören. Und ihn am Ende (das ist historisch) ausgestopft im „Naturalienkabinett“ im Kuppelsaal der Hofburg auszustellen…
Sicher, die Wirklichkeit war schaurig genug, aber Mitterer macht auch noch einen Abenteuerroman daraus, der weniger der Problematik des Themas nahe kommt, als irgend eine Art von Rider Haggard-Exotismus zu beschwören. Der reale schwarze Sklave, der zum Fürstendiener dressiert wurde und sich im wahren Leben als gebildeter, bemerkenswerter Mann ein unabhängiges Schicksal erkämpft hat, ist von diesem Buch weit entfernt.
Dass Leser, die sich der Historie einer benützten Figur nicht verpflichtet fühlen, hier einen bunten Wirbelwind-Roman mit vielen plastischen Kunstfiguren vorgesetzt bekommen, sei unbestritten. Niemand hatte je Grund, an Mitterers Können zu zweifeln. Es ist nur der Zugang, der hier irgendwie schief hängt.
Renate Wagner