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EVELYN HERLITZIUS: Ich muss meine Figuren nicht sympathisch finden, aber nachvollziehen können

27.03.2019 | Allgemein, Sänger

Evelyn Herlitzius: Ich muss meine Figuren nicht sympathisch finden, aber nachvollziehen können

 27.3.2019

(Renate Publig)

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Evelyn Herlitzius. Foto: Wiener Staatsoper

 

Am 31. März feiert die Oper „Orest“ an der Wiener Staatsoper Premiere, in der Evelyn Herlitzius die Partie der Elektra gestaltet. Im Gespräch gab die sympathische Sängerin, deren herzhaftes Lachen höchst ansteckend ist, Auskunft über ihren Zugang zu ihren Partien – und darüber, was die Zukunft für sie als Sängerin bringen wird.

 

Ursprünglich begannen Sie mit einer Ausbildung zur Tänzerin. Singen ist in gewisser Hinsicht ebenfalls „Sport“ – hilft Ihnen die Tanzausbildung auch heute noch auf der Bühne?

 

Es hilft mir, mich auf der Bühne körperlich gut zu adaptieren, zudem erlangt man eine gewisse Grundfitness durch das jahrelange intensive Training. Natürlich muss man weiter dranbleiben. Aber auf die Grundfitness kann man aufbauen!

 

Warum haben Sie sich letztendlich gegen den Tanz, für den Gesang entschieden?

 

Weil ich für den Tanz nicht den optimalen Körperbau hatte. Die Physiognomie hat man entweder, oder man lässt den Beruf sein, weil man sonst unglücklich wird. Als es auf der Kippe stand, den Tanz zum Beruf zu machen, hatte ich parallel dazu bereits Gesangsstunden. Meine Gesangslehrerin meinte damals, ich hätte doch alles für eine Sängerin, Körper, Bühnenpräsenz, Musikalität. Sie riet mir, diesen Weg einzuschlagen – ein guter Rat!

 

Ihr Tonumfang ist beachtlich: Von Puccinis Turandot über die diversen Wagner-Partien bis zu – Leoncavallos Santuzza!

 

Das war tatsächlich harte Arbeit. Zu Beginn hatte ich eher eine kurze Stimme, vom c1 bis zum g2. Die Lehrer meinten zwar, das wäre bestimmt irgendwie ein Sopran, doch welcher Typ genau, konnte niemand eindeutig feststellen. Im Zuge der Ausbildung entwickelte sich die Stimme. Zu Beginn des Studiums sang ich Blondchen und Verkaufte Braut vor, dann fragten die mich, ob ich Orpheus vorsingen wollte. Ich war sofort begeistert, es war meine Lieblingsoper. Den Witz in der Frage verstand ich gar nicht! (lacht) Im Laufe der Ausbildung wuchs die Stimme in beide Richtungen, und meine erste Gesangslehrerin sagte bereits: „Evelyn, Sie haben auch so viel Tiefe, passen Sie gut darauf auf!“ Anfangs war es sowohl für Dirigenten als auch Intendanten schwierig, mich in ein Fach einzuordnen.

 

Man möchte Stimmen unbedingt in Schubladen stecken …

 

… und ich passte in so viele Schubladen! Vom lyrischen Sopran über dramatisches Mezzofach – oder doch Soubrette? Oder Fiordiligi? Vielleicht „jugendlich-dramatisch“? Ich selbst war verwirrt, es dauerte eine Weile, bis es sich von selbst reguliert hat!

 

Das Stimmfach lässt sich nicht beeinflussen, dennoch scheint es eine ideale Fügung zu sein: Als klassische Sänger-Schauspielerin verkörpern Sie Partien, die eine besonders große psychologische Bandbreite und Vielschichtigkeit aufweisen.

 

In diesen Partien tun sich tatsächlich Welten auf, und ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich dieses Fach singen darf. Es ist in jeder Hinsicht so reich! Jede Rolle ist ein Kosmos für sich. Ich liebe an diesem dramatischen „Charakter-Fach“ besonders, dass dieses Verhältnis Musik -Ton – Text – Darstellung in diesen Partien vollkommen kongruent ist. Ich bin lediglich aufgefordert, der Vorlage zu folgen. Man kratzt natürlich tiefer, um weitere Dimensionen der Rolle auszuloten, aber es ist von vornherein so unendlich viel da.

 

Und bei der Gestaltung der Partien hilft wieder die Tanzausbildung, allein für die körperliche Präsenz.

 

Stimmt, es schärft das Körperbewusstsein. Ich habe gelernt, wie ich meinen Körper im Raum bewege, welche Geste welcher Wirkung erzielt. Allein, was man mit den Händen ausdrücken kann, bietet unendliche Möglichkeiten!

 

Starke Frauenfiguren zu verkörpern liegt Ihnen – doch auch der Sängerberuf erfordert eine starke Persönlichkeit?

 

Man braucht ganz schlicht die Fähigkeit, durchzuhalten. (lacht) Besonders im hochdramatischen Fach gelangt man an einem Abend immer wieder an einen Punkt, an dem man einfach nicht mehr weitermachen will. Keinen Ton mehr singen will. Darüber habe ich mich mit vielen Kolleginnen meines Faches ausgetauscht, die mir dieses Gefühl bestätigten. Man muss lernen, darüber hinwegzugehen.

 

Der Marathonläufer beim 30. Kilometer …

 

So etwas in der Art.

 

Ist das im dramatischen Fach noch herausfordernder?

 

Ich denke, dass allein die Länge der Partien einen Unterschied machen. Die lyrischen Partien sind mit Ausnahme der Susanna meist kürzer. Doch möglicherweise wird von dramatischen Stimmen darüber hinaus eine größere physische Kraft gefordert. Eine hohe muskuläre Bereitschaft und Spannung, um über den Abend zu kommen.

 

Wenn sich der Vorhang nach dem letzten Ton schließt, können Sie Ihre Partie wie einen Mantel ablegen? Wie lange dauert es, bis Sie wieder Sie sind?

 

Meistens dauert es bis zum nächsten Nachmittag um fünf Uhr. Zur Kaffeezeit wird es besser, ich weiß auch nicht, womit das zusammenhängt! (lacht) Bis dahin bin ich sowohl körperlich als auch geistig-seelisch etwas „außer Betrieb“.

 

Wenn man derart tief in diese komplexen Rollen einsteigt, macht das etwas mit der Psyche.

 

Weil meine Rollen meistens gewalttätig sind, oder depressiv, es geht immer um diese letzten Dinge. Das erfordert eine innere Bereitschaft und Technik, nicht darin zu versinken. Abgesehen von der körperlichen Müdigkeit! Nach den Vorstellungen fühlt es sich an, als wäre ein LKW über mich drübergefahren. Doch es ist immer wieder erstaunlich, nachmittags um fünf stelle ich fest: „Welt, du hast mich wieder!“

Mir sind die kuriosesten Sachen passiert, wenn ich nach einer Serie einen Flug zu Mittag habe, um nach Hause oder zum nächsten Engagement zu fliegen. Dann stehe ich am Flughafen und ertappte mich, wie ich vor der Anzeigentafel stehe und lese – ohne etwas zu erfassen. Dann finde ich mein Gate nicht, obwohl ich den Flughafen kenne. Dass ich noch nicht verlorengegangen bin ist ein Wunder! (lacht herzhaft)

 

„Nicht darin zu versinken“ – was machen Sie für Ihre Psychohygiene?

 

Ich gehe in die Natur, in die frische Luft. Oder, wenn es nur Straßen gibt, versuche ich zumindest, auf die kleinen Dinge zu achten. Erfreue mich an einem Kind, das ein Eis isst. Letztens war ich in Oberlaa – herrlich, um glücklich zu werden! Ich fuhr mit dem Rad an einem kleinen Park vorbei, auf der Straße war viel Verkehr. Samstag Abend, also Ausgehzeit. Und … ich dachte, ich höre nicht richtig: Im Park sang eine Nachtigall! Ich stieg sofort ab und hörte einfach nur zu. Diese Dinge helfen mir enorm, in mein Gleichgewicht zu finden.


Evelyn Herlitzius als Elektra in „Orest“ © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

 

Um nun zu Manfred Trojahns „Orest“ zu kommen: Wie würden Sie seine Tonsprache, seine Klangwelt einem Opernbesucher schildern, der noch nicht mit zeitgenössischer Musik zu tun hatte?

 

Trojahns Tonsprache ist sehr expressiv, eng an den Emotionen der jeweiligen Personen orientiert, sie charakterisiert die Figuren sehr eindrucksvoll. Fast wie ein Dialog in einem Schauspiel. Jede Rolle hat eine explizite Tonsprache, an der man sie sofort erkennt. Das hilft einem Zuschauer, der in dieser Musikwelt noch nicht zuhause ist, sofort in die Geschichte einzusteigen, ermöglicht einen direkten Zugang. Trojahn bietet eine große Bandbreite in der Dynamik, von sehr kräftig, volles Rohr, bis zu nahezu nichts. Von Gewalttätigkeit zu schönsten Lyrismen. Eine sehr reiche Musik!

 

Sie singen die Elektra von Richard Strauss. Die Oper „Orest“ knüpft nun an diese Geschichte an. In wieweit hilft es Ihnen, die Figur in der Vorgeschichte verkörpert zu haben?

 

Das half bereits beim Studium! Zur Vorbereitung las ich noch einmal meine „alten Bekannten“, Euripides und Sophokles. Man entdeckt immer Neues, liest unterschiedliche Aspekte im Laufe der Jahre heraus. Trojahn hatte keine klassische Fortsetzung der Strauss’schen Elektra im Sinn. Doch es ist eine Familiengeschichte, und wenn man die Tragödien, die in dieser Familie vorgefallen sind, so intensiv kennt, gewinnt die Interpretation eine zusätzliche Dimension. Die verschiedenen Herangehensweisen an einen Topos sind spannend zu erfahren.

 

Während die Figur des Orest sich gewandelt hat – er hat zumindest ein „schlechtes Gewissen“ – scheint es, als ob wir der gleichen Elektra begegnen. Wieder stachelt sie erfolgreich ihren Bruder auf, einen Mord zu begehen, an Helena. Handelt es sich um die gleiche Figur?

 

Die Ähnlichkeit ist scheinbar vorhanden, das Rachethema, das Nicht-loslassen-Können. Zu Beginn von „Orest“ ist Elektra erschöpft, in ihr ist nichts mehr. Wie sie den Bruder aufstachelt, der Blutrauschmodus, in dem sie sich befindet, das sind gewissermaßen die letzten Mohikaner in ihr. Sie hat im Prinzip gar kein Innenleben mehr. Das einzige, was noch funktioniert, ist die Liebe zu ihrem Bruder Orest, den sie ihr gesamtes Leben vermisst hat. Wenn sie von Rache singt, schreit, sind das Schablonen. Diese Frau ist nur noch eine Hülle, in ihr eine grauenhafte Leere. In der Elektra von Strauss war noch eine Verletztheit, aber auch eine Hoffnung, dass alles gut wird, wenn Orest zurückkehrt und die Rache an Klytämnestra vollzogen ist. Dann kann in ihrer Vorstellung die Familie glücklich sein, Orest wird König und Chrysothemis bekommt Drillinge. Die heile Welt wäre wiederhergestellt. Das war ihr Motor – doch der Tod Klytämnestra hat Elektra weder erleichtert noch befriedigt. Was ihre Bestimmung war, ist erfüllt, doch danach gibt es keine Perspektiven mehr.

 

Bei Trojahn sucht sie sich in dieser anderen Rache, indem sie ihren Bruder gegen Helena aufhetzt, ihren neuen, aber künstlichen Motor?

 

Weil sie nichts anderes gelernt hat!

 

In wieweit haben Sie „Verständnis“ für Ihre Figur, und in wieweit ist es für Sie wichtig, nachvollziehen zu können, was Ihre Figur vorantreibt?

 

Es ist tatsächlich weniger Verständnis, als der Versuch, diese Figur nachzuvollziehen. Ich kann nur darstellen, was ich nachvollziehen kann. Aus Sicht der Figur ist ihre Handlung richtig! Dazu muss ich auf allen Ebenen, für Körper, Seele und Geist, einen Weg finden. Wenn ich nicht weiß, was in einer Figur innerlich vorgeht, krieg ich das nicht in die Stimme und nicht in den Körper. Dann weiß ich nicht, wie sich die Figur bewegt. Was ist mit dem Körper, der so erschöpft ist, wie agiert sie? Da sind wir natürlich wieder beim Tanz.

Ich habe gelernt, dem Drang zu widerstehen, meine Figur erklären zu müssen. Ich muss sie nicht entschuldigen, nicht einmal sympathisch zu finden. Ich muss nur einen Zugang finden, um die Figur aufzurollen.

 

Dieses Nachvollziehen einer Figur macht es auch für den Zuschauer interessanter.

 

Vor zwei Jahren sang ich meine erste Goneril (King Lear), die so gnadenlos böse ist. Allein aus dem Trieb „because I can“. Etwas derart Extremes hatte ich bis dahin noch nicht, was eine spannende Erfahrung war, dies abzubilden. Diese Figur ist einfach grundböse, da gibt es keine Erklärung. Punkt.

 

Orest wird von inneren Stimmen gepeinigt, weil er einen Mord begangen hat, der ihm von Gott Apoll aufgetragen wurde. Obwohl in der Geschichte die „Götter“ im Spiel sind, handelt es sich um eine menschliche Geschichte, die mit ihrer „Täter-Opfer“-Thematik höchst aktuelle Brisanz hat.

 

Die Götter sind in diesem Stück lediglich Metaphern unserer Persönlichkeitsanteile. Jeder Mensch hat jeden Gott in sich. Wie sagte unser Regisseur Marco Arturo Marelli? „Ziemlich voll da oben!“ Ein psychologisch interessantes Modell, jeder Gott ist Stellvertreter eines bestimmten Aspektes eines Menschen. Das macht die alten Griechen so aktuell! Es führt dahin, sich anhand des alten Schinkens mit der Schuld-Thematik auseinanderzusetzen.

 

Am Ende verwehrt Orest den Göttern seine weiteren Dienste, stellt sich auch gegen seine Schwester Elektra – und kommt ganz untypisch für griechische Mythologie damit durch. Ein Aufruf zu mehr „Zivilcourage“?

 

Ein Appell, auf seinen eigenen moralischen Imperativ zu hören!

 

Nachdem Orest beschließt, ein „selbstbestimmtes“ Leben zu führen, hat Elektra die Macht über ihn verloren. Sie sagten, bereits zu Beginn des Stückes ist in Elektra eine Leere  – wie geht die Geschichte für Elektra aus?

 

Am Schluss ist in ihr „nichtser als nichts“. Sie ist nur noch eine Hülle – schlimmer als der Tod. Ein grauenvolles Ende. Da hat es Helena besser getroffen, die wird ein Stern, ist wieder bei ihren Brüdern und bekommt Dionysos zum Liebhaber, nicht schlecht! (lacht)

 

Elektra hat keine Perspektiven mehr, das sieht in Ihrer weiteren Karriere hoffentlich anders aus?

 

Als nächstes steht das Rollendebut als Amme in „Frau ohne Schatten“ an. Und ich stelle mein Repertoire um, ins dramatische Mezzosopranfach. Diese Elektra wurde für Mezzosopran geschrieben! Das macht noch einmal ein neues Spektrum auf. In diesem Fach gibt es sehr interessante Damen. Eine große Freude!

 

Frau Herlitzius, vielen Dank fürs Gespräch und toi, toi, toi für die Serie!

 

 

 

 

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