Foto: Wiener Staatsoper / Website
EVELINO PIDO
Sie sind die Genies –
wir sind nur die Interpreten
Evelino Pido, gebürtig aus Turin, ansässig dort und in Paris, in der Ära Dominique Meyer ständiger Gast an der Wiener Staatsoper, ist einer der großen Maestri unserer Tage. Bekannt auch dafür, das Mahler’sche Verdikt von „Tradition ist Schlamperei“ verinnerlicht zu haben: Er plädiert für „saubere“ Interpretationen, das ist man seiner unerschütterlichen Meinung nach den Genies – den Komponisten – schuldig.
Renate Wagner hat mit Evelino Pido gesprochen (in englischer Sprache)
Maestro Pido, auf Ihrem Schreibtisch hier im Dirigentenzimmer der Staatsoper liegen große, dicke Bände – ist das die kritische Donizetti-Edition, nach der Sie für die Premiere der „Lucia di Lammermoor“ vorgehen? Sie galten ja als jener Dirigent, der gewissermaßen im Sinne Gustav Mahlers meint, Tradition sei Schlamperei…
Wie kam es zu „Traditionen“, die von dem abweichen, was in den Originalen steht? Ich habe mit großen Dirigenten der vorigen Generation, mit Antonino Votto und Gianandrea Gavazzeni, viel darüber gesprochen. Ende des 19. Jahrhunderts und dann Anfang des 20. Jahrhunderts gab es die großen Sänger, die die Bühnen beherrschten, von Caruso und Toti dal Monte bis zu Callas und Corelli, Und alle Stars kamen zu den Dirigenten und wollten hier und da Änderungen, wie ihnen die Musik am besten in die Kehle passte – und alle haben ihren Wünschen nachgegeben. Und diese Veränderungen wurden dann „Sängertradition“. Ungeachtet dessen, was tatsächlich in den Partituren steht. Damals waren die Sänger die Könige der Oper. Dann waren es die Dirigenten. Heute sind es die Regisseure…
Und Sie wollen die Änderungen einer „schlampigen“ Tradition nicht unberührt stehen lassen?
Ich habe in den neunziger Jahren drei Jahre in Rom verbracht und dort von den großen Donizetti-Fachmännern gelernt, dessen Originalpartituren zu lesen. Und da steht schon einmal nicht dasselbe, was gedruckt wurde, und gesungen wird nicht dasselbe, was in den Noten steht. Darum habe ich es mir zum Prinzip gemacht, mir bei den wichtigen Werken die Handschriften anzusehen – die man natürlich auch lesen können muss -, weil ich meine, wir sind den Komponisten zutiefst verpflichtet. Sie waren die Genies – wir sind nur die Interpreten.
Kann es sein, dass die Sänger ein bisschen angesichts der Änderungen stöhnen? Wenn sie gewisse Rollen immer in einer bestimmten Art gesungen haben und dann oft nur kleine Details anders machen müssen, mag das verwirrend sein?
Ich rede ja mit den Sängern, ich diskutiere über die Probleme, lege ihnen die Gründe dar, warum Dinge anders gemacht werden sollten. Ich kann da auch nicht hundertprozentig darauf bestehen, man redet sich zusammen, manchmal akzeptiert man auch die Sänger-Tradition. Aber es ist so interessant, den Dingen auf den Grund zu gehen. In der Wahnsinnsarie der Lucia beispielsweise kann man aus Donizettis Handschrift genau erkennen, dass er als Begleitinstrument ursprünglich die Glasharmonika gewählt hat. Dann hat er es für Flöte umgeschrieben. Was war passiert? Domenico Barbaja, der ja auch in Wiens Operngeschichte auftaucht, war als Intendant ein großer Boß. Er sagte zu Donizetti, ich denke nicht daran, einen Extramusiker zu engagieren, der die Glasharmonika spielt, schreib das für Flöte um, dann macht es das Orchestermitglied…. Nun kann die Flöte mit ihren spitzen Tönen keinesfalls dieselbe „flirrende“, geheimnisvolle Stimmung erzeugen wie die Glasharmonika, zu der man mittlerweile meist zurück gekehrt ist. Auch wir in unserer „Lucia“.
Darf ich einwenden, dass ich Aufführungen mit Edita Gruberova gesehen habe, wo das „Zwiegespräch“ zwischen dem Sopran und der Flöte, die wie eine andere „Stimme“ klang, einfach atemberaubend war?
Gewiß, große Sängerinnen wollten das, auch Nellie Melba bestand auf der Flöte, und das hat sich lange durchgesetzt. Ich bewundere Edita Gruberova sehr, und sie hat mir einmal ein besonderes Kompliment gemacht, als wir gemeinsam bei einem Gastspiel in Tokio waren. Da hat sie zu mir gesagt: „Maestro, darf ich Sie bitten, unterhalten wir uns einen Tag lang über Belcanto?“
Und nun sprechen wir über die Kadenz – die Koloraturenfolge in der Wahnsinnsarie, von der ja vorgesehen ist, dass jede Sängerin sie sich gewissermaßen „selbst machen“ darf, um nach ihren eigenen Stärken zu brillieren?
Gewiß, die Kadenz gehört jeder Sängerin, ich habe 2006 in Paris eine für Natalie Dessay geschrieben und jetzt, in Übereinstimmung mit ihr, eine für Olga Peretyatko. Nur eines wird die Zuhörer überraschen – als eines der vielen Dinge, die in dieser „Lucia“ anders sind als gewohnt. Denn für die Kadenz gibt es für die Sängerin kein Begleitinstrument, die singt sie ganz allein. So, wie es sich gehört.
Sie sagen, die „Lucia“ wird anders. Wenn Sie so auf die Bühne sehen, was sehen Sie da?
Bedenken Sie, dass wir Dirigenten erst in den letzten Proben mit dem Bühnenbild und der Inszenierung als solche konfrontiert sind. Ich hege höchste Schätzung für Laurent Pelly und halte seine Vision für einsichtig. Das ist ja bekanntlich nicht bei allen Produktionen so.
Herr Pido, die Wiener Staatsoper „besitzt“ Sie erst seit der Ära von Dominique Meyer…
Nichts gegen Ioan Holender, er war ein großer Intendant, hat mir viel angeboten, aber nie ausreichende Proben. Dominique Meyer kam gleich zu mir und bot nicht nur Proben, sondern auch Premieren, von denen ich inzwischen einige gemacht habe, und das sind Arbeitsbedingungen, die ich benötige. Ich arbeite etwa sehr an den Klangfarben im Orchester, und das braucht einfach seine Zeit.
Sie haben u.a. die Netrebko-Premiere von „Anna Bolena“ geleitet und die „Adriana Lecouvreur“ mit Angela Gheorghiu. Sieht man sich in der CD-Szene um, fällt auf, dass Sie sehr viele Sängerporträts großer Stars dirigieren – von der Dessay bis Alagna. Fragen die Sänger da nach ihnen?
Ja, das tun sie. Ich habe mit vielen, natürlich nicht mit allen, einen besonders guten Draht, ich respektiere sie, und sie wollen, wenn sie klug sind, viel von mir wissen. Ich kann ihnen aus meiner langen Erfahrung auch vieles sagen, Phrasierung, Ausdruck, Details. Und viele sind dafür dankbar.
Sie gelten als Belcanto-Spezialist…
… und das stimmt nicht, ich dirigiere nicht nur Bellini, Donizetti und Rossini, sondern auch Verdi und die Veristen, ebenso das französische Repertoire, früher auch gar nicht so wenig Mozart, und auch Raritäten, ich würde gerne wieder eine Cherubini-„Medea“ machen oder eine Oper von Spontini. Und ich habe seinerzeit in Wien viel „deutsches“ Repertoire gelernt!
Wie ist es dazu gekommen?
Das verdanke ich Claudio Abbado, der sich immer sehr um junge Talente gekümmert hat. Ich war damals als junger Mann Fagottist im Scala-Orchester, und Abbado war überzeugt, dass ich zum Dirigenten tauge. Er hat mir den Urlaub verschafft und mich nach Wien gewiesen, wo die großen Lehrer waren, Hans Swarowsky, Karl Österreicher und andere. Ich habe dann ein Jahr bei Karl Österreicher studiert, und das war das ganze deutsch-österreichische Repertoire von Mozart bis Bruckner und Mahler, auch Wagner, und auch Johann Strauß! Ich kann Walzer dirigieren!
Maestro, darf man nach Ihren weiteren Plänen fragen?
Ich war jetzt so viele Jahre „free lance“ zwischen Wien und London, Paris und Brüssel, der Scala und immer wieder auch dem Teatro Colon in Buenos Aires – ich denke, jetzt ist langsam die Zeit, sesshaft zu werden. Als Musikdirektor eines Hauses oder eines Orchesters kann man dann auch anders, kontinuierlicher arbeiten.
Wir hoffen dennoch, Maestro Pido, dass Sie ein Dauergast an der Wiener Staatsoper bleiben werden. Besten Dank für dieses Gespräch.