ESSEN: WERTHER Premiere am 30.11.2013
Besuchte Zweitvorstellung am 3.12.2013
Am Ende des 2. Aktes fällt ein dicker Baumstamm auf das von FRANK PHILIPP SCHLÖßMANN biedermeierlich realistisch gebaute Haus – wilde Natur bricht Bahn sich in bürgerlicher Idylle. Ein brachialer Akzent in CARLOS WAGNERs Essener „Werther“-Inszenierung. Auch sonst geizt der aus Venezuela stammende Regisseur nicht mit schwergewichtigen Symbolszenen. Beim ersten Auftritt des Titelhelden verschwindet die Rückfront des Hauses und gibt den Blick auf eine wellige, begrünte Landschaft frei; später wird eine überdímensionale Mondscheibe die Szene beherrschen. Wenn Werther das Domizil des Amtmanns betritt, weht Laub herein. Dass es zuletzt immerwährend schneit, versteht sich. Zwar spart Massenets Musik nicht mit dräuendem Klangdunkel und schwerer Tonfülle, doch ist sie zuvörderst ein emotional sensibles Gespinst, dem man nicht mit dem Holzhammer nicht zu Leibe rücken sollte. Beim Dirigenten SÉBASTIEN ROULAND und den fabelhaften ESSENER PHILHARMONIKERn stimmt die Balance hingegen. Es dominiert ein zarter Ton, doch kommt deswegen Leidenschaftlichkeit nicht zu kurz. Zu den Fragwürdigkeiten der Regie gehört auch das Trio der Saufkumpane Johann, Schmidt (trefflich: MARTIJN CORNET, RAINER MARIA RÖHR) und La Bailli (bassmächtig: TIJL FAVEYTS). Dem Amtmann ist zudem auferlegt, seinen Töchtern mehrfach an die Wäsche zu gehen. Das erinnert fatal an die Introduktionsszene der Aachener „Rusalka“.
Von solch dümmlichen Zuspitzungen abgesehen liefert Wagner eine konventionelle Arbeit, welche der weltentrückten Leidenschaftlichkeit der Protagonisten nur selten gerecht wird. Wenn von den Herz-Schmerz-Gefühlen des „Liebespaares“ dennoch Einiges über die Rampe kommt, liegt das an den Sängern. MICHAELA SELINGER, einige Jahre Mitglied des Wiener Staatsopernensembles, bewährte sich im französischen Fach jüngst als Debussys Mélisande. Ihre Charlotte wirkt wie ein schwesterliches, freilich glutvoll gesteigertes Porträt, welches aber erfreulicherweise nicht ins Heroinenhafte abdriftet. Als großer Gewinn für das Essener Ensemble ist der ebenfalls stimmschöne, 31jährige Marokkaner ABDELLAH LASRI anzusehen. Sein höhensicherer, schlanker Tenor gibt Werthers somnambules Außer-Sich-Sein vielleicht nur bedingt her (die Darstellung gleich etwas aus), doch die Kultur seines Singens bezwingt. CHRISTINA CLARK (Sophie) besetzt in Essen nach wie vor überzeugend das leichte Sopranfach. Ein musikalisch beeindruckender Abend, was man nach dem Weggang von Stefan Soltesz mit Genugtuung bilanziert. Szenisch bleiben indes viele Fragen offen.
Christoph Zimmermann