ESSEN: PELLÉAS ET MÉLISANDE Premiere am 6. Oktober
Das Fazit gleich zu Beginn: am Aalto Musiktheater Essen ist eine beklemmend schöne, emotional bohrende, aber auch von weichen Schwingungen durchzogene Aufführung zu besichtigen. Dem Team STEFAN SOLTESZ (Dirigent), NIKOLAUS LEHNHOFF (Inszenierung), RAIMUND BAUER (Bühne), ANDREA SCHMIDT-FUTTERER (Kostüme) und – in diesem Fall ausdrücklich mit zu nennen – OLAF FREESE (Lichtgestaltung) gelingt bei dem drame-lyrique Claude Debussys, was eigentlich nur mit dem Begriff Magie zu fassen ist.
Die Deutungsmöglichkeiten sind bei einem Drama aus dem Umkreis des Symbolismus, wie es Maurice Maeterlinck verfasst hat, naturgemäß besonders groß. Dennoch dürfte alleine die weibliche Titelfigur kaum in Gänze zu entschlüsseln sein. Woher kommt Mélisande, wie war ihr Leben, bevor sie Golaud im Walde findet und ihr auf Schloss Allemonde eine Heimat gibt? Man könnte in ihr eine Schwester von Undine, Rusalka oder Melusine sehen, sie also einer nicht-irdischen Welt zuordnen wollen. Allemonde („alle Welt“) wiederum ist ein schemenhaftes Domizil, kaum zugänglich, düster; hier wird mehr gestorben als gelebt. Der Vater von Pelléas liegt schwerkrank danieder, sein Freund Marcellus ist dem Tod nahe. Pelléas weint, Mélisande ebenso – die beiden finden sich gewissermaßen unter Tränen. Wenig Freude, kein inneres Leuchten.
Hier setzt der Ausstatter an. Er stellt einen wuchtigen, schwarzen Palast mit besitzergreifenden Treppen auf die Bühne. Hinter Durchgängen scheint mitunter Tageslicht auf, ohne jedoch das Innere von Allemonde zu erhellen. Auch die Gewänder sind dunkel gehalten, gedeckte Farben gibt es gerade mal bei Golaud (blau/violett) und Arkel (rot). Ganz in Weiß jedoch ist Mélisande gekleidet und bereits dadurch als Fremdfigur in einer todgeprägten Gesellschaft gekennzeichnet.
Nikolaus Lehnhoff gehört zu den Regisseuren, welche dem Publikum keine Deutung aufzwingen, es vor allem nicht mit intellektuellem Wirrwarr anöden. Bei Debussys Oper hält er sich – ähnlich wie Jean-Pierre Ponnelle in seiner berühmten Münchner Arbeit von 1973 – an die Märchenkonturen des Stoffes, belässt den Vorgängen aber auch bzw. gerade deswegen Geheimnisse, ohne dass man sich deswegen als Zuschauer im Stich gelassen fühlt. Im Gegenteil: man denkt selber weiter, wagt eigene Assoziationen. Lehnhoffs Personenführung gibt sich unspektakulär, jedoch dringlich und sinnprägend im Detail. Und sie korrespondiert ungemein mit dem Fließcharakter der Musik. Dazu bedarf es freilich exquisiter Sängerdarsteller.
Besonderes Interesse und Sympathie erweckt der Pelléas des Südafrikaners JACQUES IMBRAILO. Er (laut Times „the hottest young bariton on the block“) verfügt über ein lyrisches, höhensicheres Organ, dazu eignet ihm eine attraktive Erscheinung, und er verleiht seiner Partie mit ausdrucksvollem Spiel ein hochsensibles Profil. Bei Youtube gibt es nota bene einen Konzertmitschnitt von 1993, wo Imbrailo mit seinem Knabensopran die zweite Arie der Königin der Nacht mit verblüffender Perfektion darbietet. VINCENT LE TEXIER ist seit über zwei Jahrzehnten ein erprobter Golaud, vokal markant, als Bühnenerscheinung eine Autorität und gerade deshalb in den Momenten der Verzweiflung (Schlussbild) besonders packend. Wegen dieses emotional breit ausholenden Rollenspiels stellen sich „Schuldfragen“ bei der Figur erst gar nicht. MICHAELA SELINGER (Mélisande) hört man nicht an, dass sie eine Mezzosopranistin ist. Ihre Stimme klingt licht und leicht, aber nicht fragil. Auch ihre Darstellung kommt ohne Verzärtelung aus. Den Arkel gibt WOLFGANG SCHÖNE mit bestechender Alterswürde. DORIS SOFFELs Geneviève klingt allerdings leicht säuerlich, ihre Bühnenpräsenz freilich besitzt Grandeur.
Seit 1997 prägt der Dirigent und erklärte Theatermann Stefan Soltesz die Geschicke des Essener Hauses und sorgt für anhaltende Qualität, die (auch dank der Essener Philharmoniker) bei Umfragen immer wieder an vorderster Stelle hervorgehoben wird. Es ist zu hoffen, dass sein Nachfolger ab 2012/14, der Tscheche Tomás Netopil, dieses außerordentliche Niveau zu halten weiß. Soltesz versteht es, aus „Pelléas“ die sensualistischen Debussy-Farben adäquat hervorzuheben, Melodisches aufblühen zu lassen, mit Klangzauber zu betören. Ein letztes Mal – und gesteigert – wirkt seine transparente Interpretation in der Schlussszene. Und wenn sich zu diesen seraphischen Klängen dann auch noch die Bühne zu einem Lichtraum weitet, kommt man der Welt unweigerlich abhanden.
Christoph Zimmermann