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ESSEN: ARIODANTE. Premiere

20.04.2014 | KRITIKEN, Oper

ESSEN: ARIODANTE             Premiere am 19. April 2014

 Zur Geschichte der zweiten Oper Georg Friedrich Händels nach Ariosts „Orlando furioso“ (1735 nicht am King’s Theatre, sondern im kurz zuvor erbauten Theatre Royal Covent Garden uraufgeführt) gibt es ein besonderes Vorkommnis zu vermelden. Da der Komponist ein Jahr nach der Premiere mit seiner „Atalanta“ noch nicht fertig war, setzte er zwei Wiederholungsvorstellungen von „Ariodante“ an. Der Premieren-Kastrat Giovanni Carestini wurde bei dieser Gelegenheit durch Gioacchino Conti („Gizziello“) ersetzt. Der traf aber erst so spät in London ein, dass er seinen Part nur unvollständig einstudieren konnte. Um die Aufführungen zu retten, fand sich Händel schließlich bereit, Conti die Arien des Ariodante durch solche aus fremder Federersetzen zu lassen.

 Vor eine vergleichbare Situation war das Aalto Musiktheater bei seiner Produktion des Werkes zwar nicht gestellt, aber zwei krankheitsbedingte Ausfälle im Ensemble zwangen zu kurzfristigen Umbesetzungen. Rettung kam von Sängerinnen des Salzburger Landestheaters, wo „Ariodante“ im vergangenen Jahr herauskam. KATHARINA BERGRATH verkörperte Dalinda, eine junge Frau, die sich aus verschmähter Liebe auf eine dubiose Hilfeleistung einlässt, welche ihre Herrin Ginevra, Tochter des Königs von Schottland, in der Verruf der Untreue bringt. Der lichte Sopran der Sängerin, an der Kölner Musikhochschule, Standort Aachen, ausgebildet, gab der Figur eine schöne weibliche Kontur. Noch als Studentin wirkte Katharina Bergrath am Theater Aachen, wo übrigens „Ariodante“ 2013 ebenfalls zur Aufführung kam. TAMARA GURA in der Titelpartie war schlichtweg eine Sensation. Die aparte Amerikanerin, von der es auf Youtube ein Porträt gibt, besitzt einen ebenso agilen wie ausdrucksvollen Mezzo, dessen Wärme, Fülle und Rundung nicht nur den Ausdruck des Schmerzes bewegend trifft (immerhin glaubt sich Ariodante von seiner Ginevra betrogen und sucht den Tod), sondern auch Jubel und Begeisterung flammend auszudrücken versteht. Wie oft die beiden Einspringerinnen in Essener Folgevorstellungen noch zu hören sein werden, war am Premierenabend nicht in Erfahrung zu bringen.

 In „Ariodante“ weicht Händel traditionellem Heldenpathos aus. Das Werk zeigt vor allem, wie ein scheinbar sicheres Glück (Ariodante/Ginevra) durch Intrigen in die Brüche geht. Der Konvention dann wieder gehorchend, verzichtete der Komponist nicht auf ein „lieto fine“ und baute – Hommage an die Tanztruppe der berühmten Marie Sallé – nachträglich choreografische Szenen ein. Was das Werk wesentlich prägt, sind freilich Äußerungen von Schmerz und Verzweiflung in mitunter sehr gedehnten Arien. Die der Buhlschaft angeklagte Ginevra, welche deswegen sogar den Tod zu gewärtigen hat, beginnt die ihre im Unisono mit den Violinen; erst sehr viel später mischt das Orchester seine Moll-Harmonien bei. Eine frappierende Wirkung, welche Einsamkeit und Trostlosigkeit  der Situation zwingend und beklemmend  in Klang umsetzt.

  Für dramatisch aufgewühlte Klänge sorgt seinerseits MATTHEW HALLS am Pult der ESSENER PHILHARMONIKER. Sie sind – ungeachtet der Heranziehung von Lauteninstrumenten –  nicht auf den Sound von Spezialensembles Alter Musik getrimmt, sondern bleiben ein theatralisch agierendes Opernorchester. Die elementare Klangentfaltung aber packt. Das Publikum bekundete in der Premiere seine Sympathie für Matthew Halls nachdrücklich und anhaltend. Der Beifall schloss freilich unmissverständlich alle anderen Mitwirkenden ein.

 Das mag man sogar für die Szeniker gutheißen, obwohl die ersten beiden Stunden der Aufführung (immerhin der längste Teil des Abends) etwas zäh, teilweise sogar regelrecht langweilig ablaufen. Der Raum von BEN BAUR (auch Kostüme) mit seinen grauen, schmucklosen Wänden, die sich öffnen und schließen können, Türöffnungen freigeben und auf der Drehbühne kreisen, wirkt nicht sonderlich inspiriert, im Grunde nur zweckdienlich. Die Inszenierung von JIM LUCASSEN kommt ihrerseits über Arrangements und klischeehafte Bewegungsabläufe selten hinaus. Das ändert sich nach der Pause, und zwar schlagartig.

 Die Bühne zeigt jetzt einen kalten, zeremoniellen Saal  mit unendlich vielen Stühlen. Vorne gibt es eine rotfarbene, erhöhte Plattform mit einem Porträt des vermeintlich umgekommenen Ariodante, daneben eine brennende Kerze. Totengedenken. Dann wird dieser Saal hochgefahren und die Unterbühne freigegeben, welche nun als Gefängnis fungiert. Hier hält Herzog Polinesso  sowohl Ariodante als auch Dalinda gefangen. Die Vertraute der Königstochter Ginevra liebt den Herzog, doch der begehrt Ginevra, so jedenfalls sagt es das Libretto. Lucassen motiviert die Situation neu. An Liebe ist Polinesso seiner Lesart zufolge nicht im Geringsten nicht interessiert, sondern nur an Macht. Wenn er einen Schal wie eine Königsschärpe um sich windet, wird mit einer kleinen Geste viel ausgedrückt. Intelligent, wie dieser Intrigant ist, konnte er sogar den König von Schottland von der Schuld seiner Tochter Ginevra überzeugen, und der ehrpusselige Herrscher überantwortet die Tochter doch wahrhaftig dem Tode.

 Ginevras demütige, fast sklavische Reaktion ist die psychologische Krux bei dieser Handlung und wohl überhaupt nicht aufzulösen. Lucassen unterläuft immerhin massiv das glückliche Finale. Gesungen wird von Freude und glücklicher Zukunft. Aber Ginevra ist durch die Erlebnisse und besonders durch die Zweifel an ihrer Integrität derart zerstört, das sie sich den Berührungen ihres Liebhabers entzieht und ein Diadem aus ihren Haaren löst, welches ihr als Zeichen einer neuen Königsnachfolgemit Ariodante  aufgesetzt wurde. Auch Dalinda und Ariodantes Bruder Lurcanio finden nicht zueinander. Von Liebe, endlich nach langer Zeit, ist zwar die Rede, aber die Inszenierung zweifelt daran und lässt die beiden körperfremd abgehen. Lucassen gelingt es, die ursprüngliche Absicht der Autoren infrage zu stellen, ohne das Werk zu zerstören. Vielmehr gewinnt es an Glaubwürdigkeit.

  Sänger sind nachzutragen. OLGA PASICHNYK holt als Ginevra emotional weit aus und ist vokal empfindsam und stilsicher. Den unsympathischen Polinesso  umreißt  IEVA PRUDNIKOVAITE mit einem fast stählern zu nennenden Mezzo und einer besonders präsenten Darstellung. Der etwas schmalspurige Tenor von  MICHAEL SMALLWOOD (welch treffender Name) gibt Lurcanio treffendes Profil. Eine besonders runde Figur ist der König von ALMAS SVILPA. Trotz balsamisch festem Gesang wird die innere Wankelmütigkeit der Figur erfahrbar. ALBRECHT KLUDZUWEIT ist als Königsgetreuer Odoardo zwar nur ein tenoraler Stichwortgeben, aber einer auf ganz hohem vokalen Niveau.

 Christoph Zimmermann

 

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