Claudia Barainsky als Medea. Foto: Karl Forster
ESSEN: MEDEA von ARIBERT REIMANN – Premiere
23.3.2019 (Werner Häußner)
Warum sich das Essener Orchester, allem Lokalstolz andernorts zum Trotz, nach wie vor als führender Klangkörper im Ruhrgebiet betrachten kann, wurde beim letzten Premierenabend im Aalto-Theater wieder einmal deutlich: Der neue Erste Kapellmeister Robert Jindra und die Essener Philharmoniker verstanden sich offenbar glänzend und machten Aribert Reimanns „Medea“ zu einem musikalischen Ereignis allererster Güte.
Neuer Erster Kapellmeister in Essen ist Robert Jindra. Foto: Petr Hrubes
Diese Oper, 2010 in Wien uraufgeführt und quasi ein Gegenstück zu „Lear“ (2001 auch am Aalto gespielt), thematisiert in zugespitzter Klarheit das Thema des Fremdseins. Reimann selbst hat das Libretto nach Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“ verfasst. Medea ist beim ihm alles andere als die kindermordende Furie, als die sie oft dargestellt wird. Zu Beginn vergräbt sie eine Kiste, die ihre „Zauberdinge“ enthält: Diese Frau, aus dem fernen Kolchis als Flüchtende im griechischen Korinth gestrandet, will die „Zeit der Nacht, die Zeit der Zauber“ vorbei sein lassen und sucht „den offenen Strahl des Lichts“. Sie versenkt damit einen Teil ihrer Identität, ihrer Kultur und ihrer – sicher nicht immer moralisch einwandfreien – Vergangenheit in die Erde. Neustart, Zukunft – das ist es, was sie ihrer mahnenden Amme Gora entgegenhält.
Das aber scheitert gründlich, denn Medeas Ruf eilt ihr voraus und die Vergangenheit verlässt sie nicht. Der berührende Moment, in dem sie ihren Partner Jason mit einem Lied aus seiner Kindheit bezaubern will, misslingt. Fremdheit und Entfremdung, vor allem aber die Angst vor dem dunklen Anderen, das Medea in den Augen von König Kreon – der wohl Jason, nicht aber ihr Asyl gewähren will – verkörpert, wirken verderblich. Da nützt es auch nichts, dass Medea sich in das Blau kleidet, das am Hofe Kreons üblich ist und mit dem ihre beiden Buben bald ausstaffiert werden (Kostüme und Bühne: Frank Albert).
Als Medea auch noch ihre und Jasons Kinder zurücklassen soll und sich die Jungen von ihr abwenden, fällt sie einen verhängnisvollen Entschluss. Das finale Bild sieht sie – wie Reimanns König Lear auf der Heide – in „wilder, einsamer Gegend“. Der Traum sei aus, allein die Nacht noch nicht, erklärt sie dem fassungslosen Jason, bevor sie mit dem Vlies in der Dunkelheit verschwindet. Sie wird, darin Brünnhilde aus der „Götterdämmerung“ verwandt, das geraubte Gut dorthin zurückbringen, wo einst sein Platz war, nach Delphi: Der Versuch, eine von Machtgier und Verbrechen beschädigte Welt wieder ins Lot zu rücken.
Claudia Barainsky singt diese letzten Worte so eindringlich und lautlich differenziert, als hätte sie in den vorangegangenen zweieinhalb Stunden nicht eine riesige Partie hinter sich gebracht. Keine Spur von Müdigkeit oder gar Verschleiß, dagegen unumschränkt souveräne Tongebung und Artikulation. Schon der erste Satz Medeas macht klar: Hier ist eine Stimm-Gestalterin am Werk, die nichts fürchten muss; nicht die dramatischen Eruptionen, nicht die sinistren Intervallsprünge über die Register weg, nicht die Momente lyrischer Sanftheit, nicht die Wort-Ton-Balance, die in jedem Moment mit Bedeutung gestaltet sein will. Man spürt die Erfahrung mit der Partie, die Claudia Barainsky schon in Wien und Frankfurt gesungen hat. Aber ihre Medea geht über die Gestaltungs-Erfahrung einer großartigen Sängerin hinaus hin zu einem existenziellen, vom Bogen der Musik getragenen Vordringen zum inneren Kern der Figur.
Wer ihr darin folgt, ist der Counter Hagen Matzeit als Herold, der die vergiftete Anklage überbringt, Medea und Jason seien die Mörder von König Pelias. Matzeit hat die gallige Schärfe und den dramatisch unmittelbaren Ton, um den Bericht vom blutigen Tod des Tyrannen mit Spannung aufzuladen, ihn vor allem aber mit der sophistisch formulierten Uneindeutigkeit einzufärben, mit der die Wahrheit in der Schwebe gehalten, aber die Ablehnung Kreons provoziert wird. Die Folge: Medea als allein Schuldige wird mit sofortiger Wirkung ausgewiesen.
Für die anderen Sänger wird es schwerer, Profil zu gewinnen: Marie-Helen Joël muss sich als Amme auf die Rolle einer statuarischen dramaturgischen Stichwortgeberin beschränken. Jason, an sich schon ein blasser Charakter, wird bei Sebastian Noack noch blasser; Rainer Maria Röhr als Kreon und Liliana de Sousa als seine Tochter und Jasons Geliebte Kreusa lassen stimmlich nichts zu wünschen übrig, wirken aber in dem protzigen, auf dürren Streben aufgeständerten und von Betonbrüstungen und -treppen umgebenen Bau auf der Bühne (Frank Albert) bisweilen eher wie Requisiten als agierende Figuren.
Der Grund liegt wohl weniger bei den Akteuren selbst als in der Regie von Kay Link. Der startet mit einem erst einmal beeindruckenden, äußerst reduzierten Bild: schwarzer Bühnenraum, ein umgestürzter Sessel, eine matt golden glänzende amorphe Masse, die sich später als Verkörperung des goldenen Vlieses in wabernde Bewegung versetzt. Der szenische Minimalismus ist eine Chance für einen konzentrierten Blick auf die Personen, die sich aber nicht einlöst, weil Link mit seinen Protagonisten wenig anfangen kann. Reduktion wird zur Leere, Statik zur Gestaltlosigkeit, Aktion zu bloßer Bewegung. Es bleibt die flammende Claudia Barainsky als szenisches Gravitationszentrum, um das die anderen kreisen. Dass sich im zweiten Teil die Szene belebt, ist auch der dramatischen Zuspitzung des Stücks geschuldet.
Bleibt noch, den Essener Philharmonikern ein Lob zu singen: Robert Jindra behält in jedem Moment Überblick und Disziplin. Die Bratschen zaubern zu Beginn ein Wunderwerk herbei, der Streicherklang in den filigranen Clustern Reimanns gleißt und glost zärtlich, lauernd und grell. Die Bläser sind nie zu laut; auch die an „Lear“ gemahnenden, reibungsvollen Einwürfe und die schweren Ausrufezeichen der Akkorde sind massiv, gefährlich, aber nie übersteuert. Die Balance stimmt in jedem Moment. Konturen und Rhythmen fransen nie aus. Das Wunderwerk von Reimanns Partitur – hier wird’s auf überwältigende Weise Klang.
Werner Häußner