Ernst Strouhal
VIER SCHWESTERN
Fernes Wien, fremde Welt
414 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, 2022
Sie waren nicht drei Schwestern wie bei Tschechow, sondern vier, geboren zwischen 1915 und 1923. und der Start ins Leben hätte für Gerda, Friedl, Ilse und Susanne nicht besser sein können. Als Töchter von Ernst Benedikt, der damals die Geschicke der Neuen Freien Presse leitete, als deren Besitzer und Chef sein Vater Moriz Benedikt einst einer der reichsten und mächtigsten Männer der Habsburger Monarchie gewesen war, stellten sie die Spitze des ebenso wohlhabenden wie kunstaffinen jüdischen Großbürgertums dar – auch wenn das gelebte religiöse Judentum in ihrem Leben keine Rolle spielte und nach ihrer Aussage erst die Nazis sie daran erinnerten, dass sie Jüdinnen waren…
Die Nationalsozialisten brachten sie um Besitz und Heimat und zerstreuten die vier Mädchen in die Welt. Aber sie waren offenbar alle lebenslang leidenschaftliche Schreiberinnen und stellten über Jahrzehnte, da sie sich nicht oder selten sahen, brieflich den Kontakt her. Autor Ernst Strouhal, der die Geschichte der „Vier Schwestern“ nun aufschrieb, hat sich auf dieses Material, so weit vorhanden, gestützt, hat es aus verschiedenen Teilen der Welt zusammen geholt und die Briefe transkribiert (was zweifello keine leichte Arbeit war).
Zwei Drittel des Buches kann man als Briefband lesen, von den Schwestern, den Eltern, von Gatten und Geliebten, ein reiches Netz von Beziehungen und individuellen Schilderungen. Sie reflektieren Schicksale, Familienbeziehungen, aber auch Befindlichkeiten durch die Zeitläufte und die Last der Emigration, des Heimatverlustes. Schreiben als Zusammenhalt. Dennoch könnten diese (kursiv gedruckten) Briefe ohne Erläuterungen nicht bestehen.
Die dahinter liegenden Geschichten, die auch eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts darstellen, liefert der Autor selbst. Von diesem ist übrigens zu sagen, dass sein „Versteckspiel“, welche der vier Damen nun seine Mutter sei, etwas geschmäcklerisch anmutet. Wer es bis zur Seite 349 schafft, liest dann lapidar, dass Ilse im April 1957 ihr drittes Kind, den Sohn Ernst, gebar. So dramatisch ist das Geheimnis ja nicht. (Er steht auch im Register, aber dazu muss man erst wissen, dass er Ilses Sohn war). Warum Strouhal nicht den Namen seines Vaters trägt, muss er uns ja nicht verraten. Seine Affinität zum Schachspiel, in anderen Büchern verewigt, scheint eindeutig von der Mutter her zu stammen. Ob er dabei auch, wie sie, das Kettenrauchen pflegte?
Durch so persönliche Zeugnisse wie Briefe lernt man die vier Schwestern natürlich sehr nahe kennen, wobei es natürlich nicht nur um sie geht. Schließlich zählen ja immer die Familienverflechtungen dazu, und solcherart ist auch vom Großvater, von Moriz Benedikt zu erzählen. Bedenkt man, dass es Karl Kraus mit seinen permanenten Angriffen gelungen ist, das Bild dieses Mannes in der Mitwelt und Nachwelt nachhaltig zu schädigen, liefert Strouhal eine einigermaßen ausgewogene Charakteristik dieses bemerkenswerten Mannes. (in dessen Haus der Name „Karl Kraus“ nie fallen durfte). Moriz Benedikt hatte zwei Söhne, Karl und Ernst, der ältere sollte die Zeitung übernehmen, überwarf sich aber so nachdrücklich mit dem Vater, dass Ernst dann gezwungen wurde, die Nachfolge anzutreten, obwohl sein künstlerisches und bohemienhaftes Naturell ihn zu anderem prädestiniert hatte.
Die Mutter der vier Töchter, geborene Irma von Rosen, stammte aus einer Künstlerfamilie, die Verwandtschaftsstränge reichten bis England und Schweden, was dann bei der Emigration half.
Dass der Enkel von Ernst und Irma nicht versucht hat, irgendetwas an den Vorfahren zu beschönigen, ehrt ihn – die strenge, herrische, die Töchter kurz haltende Großmutter wird ebenso gezeichnet wie die vier jungen Mädchen, die alles andere waren als die jungen „Damen“, wie man es von ihrer Gesellschaftsklasse erwarten konnte, sondern die als geborene „Wildfange“ durch den Garten der Villa Himmelstraße 55 rasten.
Diese Villa, in der sich in ihrer besten Zeit die kulturelle Prominenz als Gäste versammelte, nahmen die Nazis den Benedikts natürlich ab Es kostete Ilse nach dem Krieg unendlich viel Zeit und Nerven, sie wieder zu bekommen – um sie gleich verkaufen zu müssen, weil die Eltern Benedikt in der schwedische Emigration alles andere als reich waren und Geld brauchten…
Tatsächlich ist es besonders tragisch, das Schicksal von Ernst Benedikt zu verfolgen, der in Schweden (neben Bruno Kreisky) bei einer dortigen Zeitung arbeitet, aber letztlich nie wieder Fuß in der Branche fassen konnte. Die von ihm gemalten Bilder konnte er nicht verkaufen, seine Theaterstücke (die er bis zur Comedie francaise schickte) wurden überall abgelehnt, und die Memoiren, die er am Ende seines Lebens (er starb…) im Künstlerheim in Baden diktierte, wurden nie vollendet.
Der Autor erzählt die Schicksale der vier Schwestern nun parallel und verstrickt, und es ist tragisch, dass eigentlich keine der vier Schwestern unbefangen „glücklich“ wurde, wobei die Lebensläufe der beiden Älteren wahrlich tragisch ausfielen. Außerdem musste der Mann, der selbst 91jährig starb, nicht nur seine Gattin, sondern auch drei seiner vier Töchter begraben.
Gerda, die Älteste, geboren 1915, die als wenig hübsch und still galt, verließ ebenso wie Schwester Friedl vorzeitig das Gymnasium – sie wollten „Künstlerinnen“ werden (was nur Friedl wirklich gelang). Gerda verliebte sich in den Sekretär ihres Vaters, was nicht gut ging, aber sie überlebte ihren Selbstmordversuch. Danach von den Eltern noch vor dem „Anschluß“ ins englische Exil geschickt, heiratete sie einen österreichischen Psychiater, mit dem sie in die USA ging. Gerda wandte der Heimat, die sie verraten hatte, dermaßen den Rücken zu, dass das Ehepaar sogar einen anderen Namen annahm („Corvin“), um „amerikanischer“ zu werden. Gerda hatte zwei Söhne, der ältere dürfte (der Autor ist hier sehr diskret) mit einer Art von Behinderung zu kämpfen gehabt haben, was die Mutter dazu brachte, sie sich sehr mit diesem Thema zu befassen. Die Ehe scheiterte, Gerda verfiel in Depressionen, fand nur im Malen Ausgleich, zerstritt sich aus ideologischen Gründen mit Schwester Ilse, und starb schließlich nach langem Leiden 1970 an Krebs.
Friedl, geboren 1916, war die unsteteste der Schwestern, ein „Springinkerl“, wie der Vater sie nannte, die schon als Teenager eine überstürzte, bald geschiedene Ehe einging. In der Folge schwebte sie von einem Mann zum anderen, wobei es eine einzige Konstante in ihren Leben gab – die Beziehung zu Elias Canetti. Dieser führte mit ihr (mit Billigung von Gattin Veza) eine Menage à trois und bildete sie gewissermaßen zur Schriftstellerin aus (sie veröffentlichte in England drei Romane, von denen zumindest einer wirklich erfolgreich war). Es war eine bis zur ihrem Tod zweifellos höchst quälende Beziehung. Friedl, die nirgends Ruhe fand, nicht in England, nicht in Schweden (wo sie zwecks eines Passes eine Scheinehe einging), nicht am Ende in Frankreich, ging als erste der Schwestern aus dem Leben – und das sehr jung: Sie war erst 36, als sie 1953 starb.
Die Canetti-Affäre hatte ein sehr unschönes Nachspiel, als dieser 1985 in seinem Memoirenband „Das Augenspiel“ ein geradezu vernichtendes Porträt von Ernst Benedikt zeichnete. Susanne, als die damals letzte noch lebende seiner Töchter, bekämpfte das heftig (und erfolgreich): Canetti schrieb die Passage für die zweite Auflage des Buches um.
Ilse, geboren 1918. war im Gegensatz zu den älteren Schwestern eine hervorragende Schülerin, begann das Medizinstudium in Wien und setzte es in Zürich fort und blieb dort. Sie kehrte erst nach dem Krieg wieder heim. Während des Bürgerkriegs in Österreich hatte sie sich zu einer leidenschaftlichen Kommunistin gewandelt, die sie Zeit ihres Lebens blieb, als Aktivistin ebenso in der Schweiz wie in Österreich tätig. Sie heiratete dann auch einen Genossen und lebte mit ihm in Wien, wo sie sich in Donaustadt gewissermaßen als „Armenärztin“ etablierte. Ihrem politisch aufregenden Leben blieb ein schwerer Schicksalsschlag nicht erspart, als ihre Tochter im Kindesalter bei einem Unfall ums Leben kam. Ilse starb 1969 mit 50 Jahren an Lungenkrebs und hinterließ zwei überlebende Söhne, einer davon – wie erwähnt – der Autor. Mehr als tausend ihrer Patienten kamen zu ihrem Begräbnis am Grinzinger Friedhof.
Susanne, die Jüngste, geboren 1923, war noch ein Kind, als die Nazis kamen, und wurde von den skandinavischen Verwandten erst nach Finnland, dann nach Schweden gebracht, wo sich auch die Eltern einfanden. Sie wurde später in Paris als Journalistin für „Radio Free Europe“ erfolgreich, heiratete einen kosmopolitischen (italienisch / französisch / türkischen) Kaufmann, hielt Eltern und Schwestern stark zusammen und erreichte als einzige ein biblisches Alter. Sie starb 91 jährig im Jahr 2014. Der Autor, ihr Neffe, schilderte einen Spaziergang, als sie gelegentlich aus Paris kommend Wien besuchte. Er zeigte ihrch das „jüdische Wien“ mit all seinen Holocaust-Erinnerungen – was sie nicht sehr beeindruckte.
Vier Frauen, vier Schicksale, die davon geprägt waren, dass man sie aus ihrer Heimat gerissen hatte. Sie alle sehnten sich stets in die Himmelstaße und in ihre Welt zurück (wenn sie auch aus dem Haus gelaufen waren, um der mütterlichen Strenge zu entgehen..). Die Vorliebe für Wiener Extrawurst haben sie nie verloren – Erinnerung an vergangene Tage, an die verlorene Heimat..
Renate Wagner