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ERFURT: DIE FRAUEN DER TOTEN von Alois Bröder – Uraufführung

24.03.2013 | KRITIKEN, Oper

Erfurt: „DIE FRAUEN DER TOTEN“ von Alois Bröder (Uraufführung) am 22.03. 2013
Werner Häußner


Foto: Lutz Edelhoff

 Signal für einen Mentalitätswandel? In den letzten Jahren haben Opern, die das Geheimnisvolle, das Uneindeutige, das Gespenstische thematisieren, wieder Konjunktur. Das beginnt bei Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Frühform dieses Genres, und führt hin zu häufigen Neuinszenierungen von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ oder Philip Glass‘ Oper nach Edgar Allan Poe, „The Fall of the House of Usher“. Peter Eötvös hat den prominentesten zeitgenössischen Beitrag mit „Love and other Demons“ geliefert – und jetzt führt Alois Bröder mit seiner ersten Oper „Die Frauen der Toten“ diese Linie fort.

Die Oper passt in die Welt von Poe, Ambrose Bierce oder Henry James, und der Autor der Vorlage, Nathaniel Hawthorne, gehört auch zu denjenigen amerikanischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, die sich von Romantik und Transzendentalismus, von mystischen und anti-rationalistischen Strömungen beeinflussen ließen und – zwischen Schauer-Story und symbolistisch durchwehten Rätselgeschichten schwebend – den Abgrund der menschlichen Psyche, die Unheimlichkeit der scheinbar so geordneten, rational erklärbaren Welt, den Einbruch übersinnlicher Erfahrung und das Wirken göttlicher, dämonischer oder teuflischer Kräfte thematisieren. Nicht etwa, um zu erklären oder eine eindeutige Position einzunehmen, sondern um den Leser mit dem Irrealis ihrer Sprache zu nötigen, eine säuberlich eingerichtete, durch klare Gesetze und Erkenntnisse geordnete Welt in Frage zu stellen. Klar: Freud ist nicht weit. Aber was diese Autoren tun, ist in der Romantik grundgelegt und dem Christentum nicht fremd: In der Welt existiert mehr, als der rational wägende und empirisch erkennende Geist wahrhaben will.

Mit wohligem Grusel hat das nichts zu tun, eher mit existenzieller Verunsicherung. Hawthorne siedelt „Die Frauen der Toten“ in einer puritanischen Gesellschaft an, in der Schuld und Sühne allgegenwärtig und biblische Schriften vor allem eine Drohbotschaft sind. Bröder fängt die bedrückende Atmosphäre in der Einleitung der Oper ein: Die dunkel gekleideten Gestalten einer Beerdigungsgesellschaft versuchen zwei junge Witwen mit Sentenzen zur Auferstehung zu trösten, aber die Art, wie sie es tun, verwandelt die Botschaften in düstere Prophezeiungen.

Und die Toten kehren auch wieder, allerdings nicht als Auferweckte zu einem himmlischen Leben, sondern als unheimliche Gespenster. Mary und Margaret – die Ähnlichkeit zu Maria und Martha, den Schwestern des biblischen Lazarus, liegt nahe – haben ihre Männer gleichzeitig verloren. Es waren zwei Brüder, der eine blieb auf See, der andere kam im Krieg um. Nachts kommen zwei Nachbarn und berichten, die Männer seien doch noch am Leben. Jede der Frauen behält die frohe Botschaft für sich, um der anderen nicht noch mehr Schmerz zu bereiten. Mit einem sprachlich uneindeutigen Satz am Ende der Geschichte jedoch nimmt Hawthorne dem Leser jede Sicherheit: Ist das Erzählte real, oder doch nur ein Traum?

Alois Bröder hat dieses Gespinst aus Ahnung, Traum und Realität noch intensiviert, indem er die Geschichte in zwei „Versionen“ erzählt. Musikalisch und sprachlich – er wechselt bei der Wiederholung etwa vom Englischen ins Deutsche – führt er noch tiefer in das Abgründige: Der Auftritt der Nachbarn wird zur Wiederverkörperung der – gestorbenen? – Ehemänner; das Verhältnis der beiden Frauen wird kritischer, zeigt Indizien von Hysterie und Hass. Regisseurin Gabriele Rech stützt die Zuspitzung mit minutiös ausgearbeiteter Personenführung, bricht den scheinbar ungebrochenen Erzählstil der ersten Version auf – zunächst kaum merklich, dann immer konkreter. Am Ende des ersten Teils zieht Mary ihrer schlafenden Schwester Margaret die Bettdecke über den Kopf: Mord oder Fürsorge? Am Ende des zweiten Teils nehmen beide Tabletten und liegen reglos nebeneinander im Bett: Selbstmord oder Erschöpfungsschlaf?

Rech stützt den Alptraum-Aspekt der Oper auch in der Darstellung der männlichen „Gespenster“: Sie lässt die unterschwellige Erotik spüren, die zwischen den Nachbarn und den Frauen knistert, verwandelt sie im zweiten Teil in eindeutige Szenen, die aber ihre Geheimnisse nicht verraten: Wenn Nachbar Stephen – bezeichnenderweise eine Jugendliebe Margarets – sich plötzlich neben ihr im Bett erhebt, ist er dann eine Traumgestalt? Margarets heimgekehrter Mann? Oder nur der Nachbar, der die Chance des Augenblicks sexuell ausgenutzt hat?

Die Bühne Norman Heinrichs und die Kostüme Gabriele Heimanns frönen vordergründig einem historischen Naturalismus: Heinrich baut eine Art Puppenhaus, im Untergeschoss der gemeinsame Wohnraum der beiden Ehepaare, im oberen die getrennten Schlafräume. Aber das Licht (Stefan Winkler) bricht diese gemütvolle Häuslichkeit ins Unheimliche. Am Rand der Wohnstube liegen zwei Gräber – ein surreales Element, das die Ahnung des Alptraums von Anfang an präsent setzt.

Alois Bröder, 1961 in Darmstadt geboren, hat bisher rund 90 Orchester- und Kammermusikwerke geschrieben. Mit „Die Frauen der Toten“ legt er seine erste Oper vor – und kann auf Anhieb überzeugen. Seine Musik ist nicht neuerungssüchtig, er verwendet mit den Farben der tiefen Streicher und der Posaunen, den traditionell der Traumsphäre zugeordneten Instrumenten Celesta, Flöte und Harfe, mit Tremoli, harmonischen Verschleierungen und Tritonus durchaus Mittel, die auch Benjamin Britten schon in „The Turn of the Screw“ eingesetzt hat. Doch er imitiert nicht, sondern führt weiter.

Bröder widersteht der Versuchung, die Stimmen der Sänger in extreme Lagen zu führen oder das Orchester klanglich zu massieren. Die Struktur seiner Musik ist stets durchsichtig, oft kammermusikalisch geprägt; die heftigen Akzente wirken umso verstörender. Bröder versteht es, das Zwielicht, das dieses Stück bestimmt, musikalisch einzufangen und atmosphärisch auszugestalten. So wünscht man sich Opernmusik: individuell und selbständig, auf der Höhe der Zeit, markant im Ausdruck, aber stets orientiert am Ziel, eine packende Geschichte dramatisch schlüssig darzustellen.

Mit den aufmerksamen Solisten des Erfurter Philharmonischen Orchesters und dem sensiblen Klangfarbengestalter Johannes Pell am Pult hat Bröders Musik engagierte Sachwalter gefunden. Auch die Sänger stehen dem nicht nach: Sie lassen sich von Gabriele Rechs detaillierter Regiearbeit szenisch fordern, überzeugen ebenso mit musikalisch sorgfältiger Nuancierung ihrer Partien. Bei Marisca Mulder (Mary) und Mireille Lebel (Margaret) ist der Grenzgang zwischen Wahn und Wirklichkeit zu spüren, bei Marwan Shamiyeh und Florian Götz das Changieren zwischen den Polen von realer Präsenz und gespenstischer Erscheinung. Mit diesem Auftragswerk könnte die Oper Erfurt das schmale Repertoire spielbarer und überzeugender zeitgenössischer Opern um ein attraktives Stück bereichert haben – wenn es denn eine Chance bekommt, nachgespielt zu werden. Von Bröder, dem Neuling in der Welt der Oper, wird man hoffentlich hören!

 Werner Häußner

 

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