Enrique Granados:
MARIA DEL CARMEN
Wexford Festival 2003,
NAXOS 2 CDs
Von U Booten, Torpedos und aus verwaisten Koffern geretteten Partituren
Vermutlich ist die wahrlich unglaubliche Geschichte rund um Leben und Sterben des katalanischen Komponisten Enrique Granados aufregender als die Oper Maria del Carmen selbst, einer Art spanischem Folklore-Verismo-Reißer mit einem dunklen „Happy End.“ Granados tragischer Tod ereignete sich so: Von Klavieraufnahmen in New York aus nahm der Komponist im März 1916 den Umweg über England, um über Frankreich nach Spanien zurückzureisen. Und das nur, weil Granados den direkten Ozeandampfer wegen einer zögerlichen Zusage zu einem Recital versäumte. Von da an wird es abenteuerlich und zeigt nach dem Spiel „Was wäre geschehen, hätte ich die nächste U-Bahn genommen?“ die fatalen Folgen unzeitgemäßen Seins zur falschen Zeit am falschen Ort, und das gleich mehrfach. Granados bestieg das Schiff also zuerst nach England, um von dort aus über den Ärmelkanal nach Dieppe zu reisen. Zufällig kreuzte die Fähre Sussex ein deutsches U-Boot in durchaus kriegerischer Absicht, das mit einem Torpedo die Sussex folgenreich traf. Schon im Rettungsboot in Sicherheit, sprang Granados nochmals in die Fluten, um seine Frau zu retten, beide kamen bei dieser unglaublich traurig romantischen „Titanic“-Story ums Leben. Dreimal fatal: Das Schiff brach durch den Beschuss in zwei Teile, von denen derjenige, auf dem sich Granados Kabine befand, unversehrt blieb und in den Hafen geschleppt werden konnte. Wären die beiden in der Kabine geblieben, hätten sie so wie fast alle anderen auf diesem Teil der Fähre gerettet werden können. Das Ehepaar Granados hinterließ sechs Kinder und im Koffer in der Kabine die Original-Partitur zu dessen früher Oper Maria del Carmen.
Das Label NAXOS veröffentlicht nun aus Anlass des 100-jährigen denkwürdigen Todestages des Komponisten eine nicht mehr ganz taufrische Aufnahme dieser durchaus effektvollen Oper vom Wexford Festival 2003, die bereits bei Marco Polo erhältlich war. Trotz nur mäßiger Klangqualität lohnt sich dennoch das Kennenlernen dieser Oper einer dörflich unsittlichen Dreiecksgeschichte à la Cavalleria rusticana mit Messerstecherei zwischen den Rivalen Pencho (Jesús Suaste mit etwas nüchternem Bariton) und Javier (spitz aber tonsicher Dante Alcalá). Es geht um die schöne Maria (Diana Veronese mit sinnlich ausladendem vibratoreichem Sopran), die lieber den ungeliebten Javier heiratet als ihren Pencho im Gefängnis zu sehen. Zum ihrem Glück verzichtet Javier krankheitsbedingt auf die Schöne, die am Ende ihren leidenschaftlichen Lover bekommt. In weiteren Rollen sind David Curry als Don Fulgencio, Riccardo Mirabelli als Antón, Silvia Vásquez als Marias Freundin Fuensanta und Larisa Kostyuk als Concepción zu hören. Alberto Arrabal als Pepuso, und Gianfranco Montresor als Javiers Vater Domingo ergänzen das Ensemble, das eher in Dramatik und als Bühnenteam denn als Träger schöner Stimmen überzeugt.
Nicht die Handlung der Oper an sich ist außerordentlich. Aber wie Granados meisterlich spätromantisches Erbe mit veristischen Einsprengseln, jeder Menge an spanischen Volksweisen mit durchaus moderner Klangsprache gekonnt mischt und daraus ein ganz persönliches musikalisches Idiom so irgendwo zwischen Zarzuela und italienischer Melodienseligkeit destilliert, ist höchst bemerkenswert. In den Chören und Ensembles überzeugt Granados am meisten, aber auch die Solisten haben originelle und anspruchsvolle Parts zu absolvieren. Das National Philharmonic Orchestra of Belarus unter Max Bragado-Darman macht seine Sache exzellent. Allerdings trübt der doch dumpfe Klang den Hörgenuss erheblich.
Fazit: Zum Kennenlernen des Werks ist die wiederaufgelegte Aufnahme aus Wexford gut geeignet, die Genießer grandioser Stimmen und die Hi-Fi Freaks werden sich bis auf weiteres noch gedulden müssen.
Dr. Ingobert Waltenberger