Helen Liesl Krag / Peter Menasse
ELLA SCHAPIRA (1897-1990).
Lebensgeschichte einer jüdischen Kleidermacherin,
208 Seiten, Böhlau Verlag. 2020
Dieses Buch gab es, in bescheidener Form, schon einmal. 1992 hat Helen Liesl Krag in der Reihe des Böhlau-Verlags „Damit es nicht verlorengeht“ bereits die Lebensgeschichte ihrer Großmutter erzählt, die zu diesem Zeitpunkt erst kürzlich verstorben war. „Man hat nicht gebraucht keine Reisegesellschaft…“ hieß das Buch damals und faszinierte bereits.
Die Zeiten haben sich geändert, die Möglichkeiten der Recherche sind im digitalen Zeitalter ungleich breiter geworden. Helen Liesl Krag, die Tochter von Ella Schapiras einzigem Sohn Oskar, hat noch einen anderen Enkel ihrer Großmutter beigezogen: Peter Menasse (mit den schreibenden Menasses übers Eck verwandt), den Sohn von Ellas Tochter Edith. Auch er bietet seine ganz persönlichen Eindrücke über die ungewöhnliche Großmutter, die er zwar selten gesehen hat (sie lebte damals schon in England), die ihn aber tief beeindruckte.
„Jingele“ nannte sie ihn, denn von den vielen Sprachen ihres Lebens war Jiddisch die elementarste – und Deutsch diejenige, die sie am besten sprach, obwohl es hieß, sie könne zwar Russisch, Polnisch, Deutsch und Englisch, aber nichts richtig. Aber wo immer sie lebte, leben musste, hat sie auch die Sprache gemeistert.
Die Geschichte von Ella Schapira, die mit dem Familiennamen Sobel geboren wurde, in der zweiten Station ihres Lebens Wolfzahn hieß (weil der Vater in der Monarchie den Namen seiner Frau annahm), dann eine verheiratete Rosenstrauch war und als Mrs. Shapria (das war der Name ihres zweiten Gatten) starb, ist ein bewundernswertes jüdisches Schicksal, das beweist, dass Juden im 20. Jahrhundert nur überleben konnten, wenn sie bereit waren, immer wieder alles hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Ella hat es getan, und sie war glücklich, dass sie – deren Mutter nicht einmal lesen und schreiben konnte – erlebte, dass ihre Kinder und Enkel zu Intellektuellen heranwuchsen.
Den jüdischen Traum vom Aufstieg zu etwas Besseren (und nicht arm sein zu wollen), hat sie selbst erfüllt. Von Jugend an wollte sie arbeiten, wurde Schneiderin – und hat damit nicht nur ihr Leben finanziert, sondern auch ihres und das ihrer Kinder gerettet: Denn es waren Kundinnen ihres Wiener Salons, die sie 1938 mit ihren drei Kindern nach England retteten… nur ihr Gatte schaffte es nicht. Er wurde von den Nazis ermordet, bevor er der Familie folgen konnte.
Geboren wurde Ella 1897 in Russland, Pogrome trieben die Juden nach Westen, die nächste Station war das polnische Tarnopol (damals im österreichischen Galizien gelegen), und der Erste Weltkrieg trieb das junge Mädchen nach Wien. Früh schon hatte sie beschlossen, ihr eigenes Geld zu verdienen – sie wurde von der Näherin schon in Wien zur Besitzerin eines Modesalons. Denn Gatte Jakob Rosenstrauch war mit dem Geld nicht sehr großzügig, und Ella fand immer, eine Frau müsse finanziell selbständig sein. Bald verdiente sie viel mehr als er. Und als sie nach England kam, baute sie ihr Leben mit Hilfe ihres Berufs erneut auf. Noch als sie in der Nachkriegszeit als alte Frau nach Wien kam, erinnert sich ihr Enkel, ging sie durch die Modegeschäfte der Stadt, merkte sich Schnitte und versorgte die Engländerinnen mit „Wiener Mode“…
Ella Schapira erzählt diese Geschichte im O-Ton in jenem typischen Deutsch, das Juden mit „jiddischem“ Hintergrund sprechen und das schon durch Formulierungen und Satzstellungen unverkennbar ist. Das Bewundernswerte an ihrem Schicksal ist nicht zuletzt, dass sie über unglaubliche Entbehrungen, Strapazen, Enttäuschungen oder Verluste nie ein Wort der Klage äußerte. Was das Leben ihr entgegen stellte oder auch bot, es musste einfach bewältigt werden…
Und Helen Liesl Krag ergreift immer wieder zwischendurch das Wort, ergänzt, was sie zu den Erzählungen der Großmutter Faktisches recherchieren konnte, berichtet selbst Erlebtes. Man erfährt in dieser kompakten Geschichte unendlich viel über jüdisches Leben und seine Verknüpfungen in familiären und freundschaftlichen Verbindungen, man lernt auch (interessant aus heutiger „Schlepper“-Realität), dass man schon damals, wenn man aus einem Land floh, „nicht gebraucht hat keine Reisegesellschaft“, denn es gab Leute, die so etwas professionell erledigt haben.
Und Ella Schapira ist auch ein Beweis dafür, dass das jüdische Schicksal, immer wieder den Wohnort wechseln zu müssen, für Menschen wie sie am leichtesten war – denn eine Schneiderin wurde immer gebraucht…
Renate Wagner