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Edwin Möser: DREHSCHEIBE MONTEVIDEO

16.07.2015 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

BuchCover Möser, Drehscheibe Montevideo jp

Edwin Möser:
DREHSCHEIBE MONTEVIDEO
Die Zeitreise einer europäischen Familie
376 Seiten, Edition Ausblick, 2015

Familienforschung liegt zwar einerseits im Trend, verkündet der Autor, aber wie viele Menschen interessieren sich wirklich für die Vergangenheit? Doch nicht nur in der Historie, sondern auch in der eigenen Familiengeschichte lassen sich die wundervollsten Schicksale hervorholen, zumal ja jedes von ihnen untrennbar mit den Zeitläuften verbunden ist.

Das beweist jedenfalls der „Roman“, den der 55jährige ORF-Redakteur Edwin Möser vorlegt, wobei es sich um seine eigene Familiengeschichte handelt. Als „Albert“, der sich hier auf die Spuren der Vergangenheit setzt, in das 12.000 Kilometer entfernte Montevideo aufbrach, hat sich ihm eine Geschichte von hinreißender Fülle aufgerollt, die er auch noch mit jeder Menge historischer Fotos (wohl aus den diversen Familienalben) schmücken konnte…

Erzählt werden, in buntem – ehrlich gesagt: manchmal zu buntem – Durcheinander von Zeiten und Orten, die Schicksale der Kinder von Loewk Kohen Grünberg, der den Vornamen dann in Wien (wo er 1921 starb) auf Leopold änderte.

Seine Geschichte führt allerdings durch die Monarchie, ausgehend von Ostgalizien, wo Loewk als kaisertreuer Justizbeamter eine seiner vielen Stellungen in der Monarchie inne hatte. 1908 starb Jette, seine erste Frau, von der er acht Kinder hatte (viele davon lernt man ganz genau kennen), aber weil er wieder heiraten musste, nahm er Itte Ruchl, von der auch noch Nachwuchs kam und mit der er nach Krakau zurückging, wo er früher schon Station gemacht hatte. Zehn Kinder waren es – die Töchter Rosy, Lilly, Tatjana, Stefanie, Heidi und Hella, die Söhne Theo und Gustav von der ersten, Raoul und Rudolf von der zweiten Frau.

Als die Familie im Krieg 1915 nach Wien übersiedelte, machte sich Theo still aus dem Staub – er hatte keine Lust, in Kaisers Rock zu sterben. Er schiffte sich in Genua ein, Reiseziel Buenos Aires, es wurde dann Montevideo, denn Uruguay galt als die „Schweiz Lateinamerikas“. Halbbruder Rudolf landete auch dort, allerdings später, 1938 auf der Flucht vor den Nazis.

Bemerkenswert, wie Albert, der Rechercheur der Familiengeschichte (er ist Heidis Enkel und Loewks Urenkel), sich auf die Spuren dieser weit verzweigten Verwandtschaft setzt, die so verschiedene Wege durchs Leben ging. Dabei gibt es nicht nur die Juden unter ihnen (wobei vor allem die Frauen gern zum Katholizismus übertraten, um diese Bürde zu vermeiden, und vielfach Arier heirateten), sondern auch die „Beinahe“-Nazis, also Alberts andere Großeltern Poldi und Hermann. Wie Zeitgeschichte sich in den Menschenleben, aber auch in deren geistiger Prägung spiegelt, wird an vielen prägnanten Analysen klar, wobei die Söhne von Loewk alle erfuhren, dass man als Jude auf der ganzen Welt sehr vorsichtig sein muss…

Unglaublich, wie groß diese Familie war, immer kommen noch neue Figuren dazu, wenn Loewks Witwe Itte etwa den Ungarn Alfred heiratet und mit Lisa noch eine Halbschwester zu begrüßen ist, und von allen ist auch das Schicksal von Kindern und Enkeln zu erzählen – zwischen Wien, Südamerika und Israel, wobei natürlich die Nazi-Zeit besonders tragischen Stellenwert für alle hatte (und der Geschichte der betrügerischen Gildemeester-Stiftung nachgespürt wird, die angeblich Juden retten, tatsächlich nur deren Vermögen stehlen wollte).

Ob Gustav, aus dem katholisch verheiratet Gustavo Grünberg-Rodriguez und ein höchst erfolgreicher Pelz- und Lederhändler in Montevideo wird, ob Hella, die einen fragwürdigen Geschäftsmann namens Max Mentzel heiratet und mit ihm in Argentinien lebt, ob Raoul, der Theresienstadt überlebt und zum fanatischen Israeli wird, der sich auf die Jagd nach Mengele macht – es sind teils unglaubliche, immer wirklich spannende Geschichten.

Allerdings, wie erwähnt, in einem wilden, in der Dramaturgie nicht immer erkennbaren Durcheinander erzählt. Und so hätte man an das Buch einen wirklich elementaren Wunsch gehabt: Einen Stammbaum mit allen Kindern des alten Loewk Grünberg samt ihren Angehörigen und Nachfolgern – es hätte das Lesen gelegentlich sehr erleichtert. Ein Gewinn war es dennoch.

Renate Wagner

 

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