DÜSSELDORF: Hinter den Tapisserien, Kellerasseln der Psyche – Benjamin Britten: „The turn of the screw“ – Premiere Rheinoper Düsseldorf 4. Mai 2012
Wie inszeniert man einen Alptraum? Immo Karamann zieht mit seiner dritten Britten-Inszenierung für die Rheinoper alle Fäden eines Psychothrillers. Eine subtile, bis in die kleinste Fingerbewegung austarierte und ausgefeilte Personenregie läßt uns das Blut in den Adern gefrieren, ja man vergißt fast zu atmen. Der Spannungsbogen ist fast vorm Zerreißen, die Pause wird zwar als Atempause angenommen, stört aber den eigentlichen Sog, hält den „Dreh“ für einen Moment an. Mit „Turn of the screw“ – Brittens Psychodrama auf eine Novelle von Henry James über die Besessenheit von Kinderseelen – gelingt dem Regisseur ein ganz großer Wurf, der selbst einen Psycho-Klassiker wie „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ weit in den Schatten stellt.
Mit dem Haus „Bly“ ist irgendetwas, Seltsames geschieht nicht nur in den realen Räumen, hinter der schwammigen Edeltapete brodelt es. Ein so faszinierender wie unheimlicher Raum ist das Haus, das Bühnenbildner Kaspar Zwimpfer Karamann auf die Bretter der Rheinoper baut – und je tiefer man meint in die Räumlichkeiten vorzudringen, je mehr man meint hinter das Geheimnis zu kommen, umso irrealer, ja surrealer nimmt sich die sinistre Architektur aus. Ohne Escher unnötig zu bemühen, gegen Ende, wenn sich das Treppenhaus seltsam verdreht präsentiert, atmet es den Hauch der verstörenden Graphiken des Niederländers. Aber Karamann und Zwimpfer zitieren auch auf subtilste Art die Bilderwelten eines Magritte und vor allem die Bildromancollagewelten eines Max Ernst. Die Aufführung besticht nicht nur durch ihre Dichte, sondern auch durch die abgründigen Bildimpressionen. Die grandiosen Spiegeleffekte und vor allem die kurze Szene, wo sich die Geistergestalten der Miss Jessel lemurenhaft hinter die leicht angehobenen Wände verziehen, wie lichtscheue Urinsekte, Kellerasseln der Psyche – diese starken Bilder wird man so schnell nicht wieder aus dem Kopf bekommen.
Es war eine gute Idee der Rheinoper, Wen-Pin Chien mit der Partitur dieses komplexen Werks zu betrauen. Avancierte der Taiwanese doch zum Spezialisten des Außergewöhnlichen. Unvergessen nach wie vor seine Interpretation des Schönberg’schen „Moses“ in der letzten Spielzeit der Ära Richter. Chien gelingt es mit dem exquisiten Solistenensemble der Düsseldorfer Symphoniker, uns in die abgründig betörenden Klangwelten des Orpheus Britannicus zu entführen, die Regie findet hier den ihr gebührenden musikalischen Widerpart. Es fällt schwer, einzelne Leistungen zu würdigen, so seien pars pro toto nur genannt, die phantastischen Violinensoli von Franziska Früh und Pascal Thiery, die mit ihrer „falschen“ Süße und im Einklang mit den becircenden atemberaubenden Harfenarpeggien aus den flinken Händen Jie Zhous uns die Sinne beraubten, das berückend schön vorgetragene Horn-Solo von Theo Molberg und die faszinierenden Flötenmelismen Yo Washios.
Kann ein 12jähriger schon ein „abgebrühter“ Mime, ein Tragöde sein? Bei aller Vorzüglichkeit des erlesenen Ensembles, Harry Oakes der Junge aus dem Trinity Boys Choir, spielt als Miles alle an die Wand, der Knabe Miles wird durch ihn zur absoluten Hauptperson. Man weiß nicht, was man bei diesem Knaben zuerst bewundernd hervorheben soll, die makellos geführte Stimme, nicht nur im erschütternden „Malo“-Lied, die Ausgelassenheit im Spiel mit seiner Schwester, die Vis comica, die sich schon in der Begrüßungsszene Bahn brach und im Kabinettstückchen der Pultstarparodie kulminierte oder sein tragisches Talent im Ringen, seinen verstorbenen Verführer nicht preiszugeben, das im markerschütternden Tod endet? Eleanor Burke als Flora hatte es neben ihm schwer, verstand es aber, die undankbarere Rolle der Schwester Flora vom zickenden Dummchen zu befreien, auch gefiel ihr leuchtender Mädchensopran.
Sylvia Hamvasi kann die „Governess“ als eine neue Glanzpartie in ihrem weitgefächerten Repertoire verbuchen. Die Natürlichkeit ihres Spiels, wie sie die Ängste und Nöte der um die Kinderseelen Kämpfenden tragisch reifen ließ, dabei die teilweise aberwitzigen Koloraturkaskaden meisterte, überzeugten ohne Maßen. Marta Marquez kann man als Mrs Grove gleiches konstatieren. Mit Mut zur Häßlichkeit in ihrem braunen Dienstbotenfummel (Kostüme: Marie -Luise Walek) gefiel ihr zwischen Gleichgültigkeit, Blasiertheit und aufrichtigem Mitgefühl schwankendes Spiel des Psychogramms dieser Rolle. Als Geistererscheinung der Mrs Jessel überzeugte einmal mehr Anke Krabbe – und dann ist da noch der Ausnahmetenor Corby Welch, der schon als unsichtbarer Prologus mit seinen süßlich fatalen Melismen uns das letale Ende erahnen läßt. Als verführerischer Geist Peter Quint evoziert Welch mit seinem Tenor den Quint der Uraufführung – Peter Pears. Dessen schlankes heller timbriertes Tenorvitriol versprüht Welch fast noch betörender. Dabei besticht die äußerste Textverständlichkeit, mit der Welch seinen Part bewältigt. Man käme nie auf die Idee, dass hier ein junger Amerikaner sänge, sondern ein Nachfahre des Orpheus Britannicus.
Die Regieidee, die Geistergestalten zu splitten und noch zwei Tänzern zu überantworten, hatte einen ganz besonderen Reiz und ließ manchen Effekt noch spannender erscheinen. Dafür sorgte Fabian Posca mit seiner klugen Choreographie und seinen schlangengewandten Tänzern Ulrich Kupas (Peter Quint II) und Anna Roura-Maldonado (Miss Jessel II), unterstützt von der Statisterie der Rheinoper.
Bei aller Premierenjubelfreude täuscht der Eindruck. Brittens Psychodrama wird es schwer haben, sich in den Köpfen des sich mal wieder äußerst blasiert zeigenden Düsseldorfer Publikums zu verankern. Intendant Prof. Christoph Meyer hat mit demselben Problem zu kämpfen, das sein Vorvorgänger Prof. Kurt Horres einmal so trefflich auf den Punkt brachte: „Die Leute hier sollten endlich einmal lernen, dass sie nicht nur an der Düssel, sondern auch am Rhein leben.“
Dirk Altenaer