Düsseldorf: The Rake’s Progress Premiere am 23. Mai 2012
Ähnlich wie bei Benjamin Brittens „Turn oft he Screw“ (Anfang des Monats an der Deutschen Oper am Rhein neuinszeniert), ist der Titel von Igor Strawinskys „The Rake’s Progress“ nur schwer übersetzbar, ein freilich eher mittleres Problem, gibt man das Werk heute doch ausschließlich in der englischen Originalsprache. „Leben (oder: Geschichte) eines Wüstlings“ suggeriert hinsichtlich der zentralen Figur (Tom Rakewell) negative, fast nihilistische Triebe, wie sie eigentlich eher Mozarts Don Giovanni zu unterstellen sind. Die berühmten Kupferstiche William Hogarths aus dem 18. Jahrhundert lösten bei Strawinsky zwar den ersten Ideenschub für sein Bühnenwerk aus, doch erst durch die Librettisten Hustan Hugh Auden und Chester Kallman sind dem Sujet seine eigentlichen Dimensionen zugewachsen.
Da gibt es mythische Verweise und sogar Strukturen eines Mysteriums. Die Figuren von Tom Rakewell und Nick Shadow (symbolisch bereits die Namen) müssen nicht als simple Gegenspieler gedeutet, könnten auch als Ausformungen einer einzigen Persönlichkeit verstanden sein, eine Idee, welche die Inszenierung von SABINE HARTMANNSHENN mit erotischer Akzentuierung aufgreift. Wie Mephisto in „Faust“ (zwei Seelen, auch, in meiner Brust) ist Shadow eine Teufelsfigur und bei Tom das dunkel Abgründige in einer eigentlich reinen Psyche. Die äußere „Rake“-Handlung kommt balladesk, ja lapidar daher. Ein junger Mann, kaum der Pubertät entwachsen, muss sich im Leben zurechtfinden. Beruflich hat er Flausen im Kopf, dazu die Liebe mächtig drängend im Leibe. Größenwahn lässt ihn auf fremde Einflüsterungen hören, in fremde Milieubereiche eindringen, die seinem Wesen eigentlich nicht entsprechen. Toms Gedanken kehren denn auch immer wieder zu Ann zurück, dem Sinnbild reiner Liebe.
Das alles kann von einer Regie vermutlich nie ganz vollgültig erfasst werden. In Düsseldorf jedoch liefert MATTHIAS KLINK ein ungemein reiches Porträt des Tom Rakewell, dem haltlosen Alter Ego eines Peer Gynt, das man bis in die 68er Generation des 20. Jahrhunderts fortdenken könnte. Zwischen der weitgehend historisierenden Optik eines David Hockney (Glyndebourne 1975) und der eines Peter Sellars (Paris 1996 – gewalttätiges Gefängnismilieu) steht rezeptionell die von Strawinsky besonders geschätzte Arbeit Ingmar Bergmanns (Stockholm 1961).
DIETER RICHTERs Düsseldorfer Ausstattung entwirft zunächst ein Bilderbuch-Panorama: idyllisches Landhaus von Trulove, schwüles Etablissement von Mother Goose, Toms interrestrisch anmutende Londoner Wohnung und anderes. Im Gefängnisbild bilden stehen gebliebene griechische Säulen gerade mal ein bisschen Coleur locale. Die Kostüme von SUSANA MENDOZA modernisieren auf behutsame Weise. In diesem Umfeld führt Sabine Hartmannshenn sehr üppig, vielfach sehr komisch, auf jeden Falle stets unterhaltsam Regie, lässt dabei auch Hintergründiges aufscheinen. Ein Personality-Stil im engeren Sinne ergibt sich dabei zwar nicht, aber das Premierenpublikum war zweifellos dankbar, dass Raum blieb für persönliche, weiter schweifende Gedanken.
Die Deutung des Tom durch Matthias Klink ist, wie schon angedeutet, eine Welt für sich. Dieser überragende Sängerdarsteller erspielt, nach wie vor enorm jugendlich wirkend, der Figur Liebesfreud, Liebesleid und Liebesgier mit allen Zärtlichkeiten und Gefährdungen. Wahrhaft fantastisch! Ein paar Höhenanstrengungen überhört man gerne. BO SKOVHUS ist Nick Shadow, ein wendiger Maitre de plaisir, sängerisch markant und variabel. Der Ann gibt ANETT FRITSCH mädchenhaften Charme und vokale Leichtigkeit mit. SUSAN LACLEAN als Baba (ohne Bart) ist Klasse wie auch SAMI LUTTINEN (Trulove) und die körperfüllige BONITA HYMAN (Mrs. Goose). Den Aktionär Sellem prägt BRUCE RANKIN mit einem charakteristischem Tenor, der eigentlich häufiger nach größeren Aufgaben ruft. Im 2. Bild des 1. Aktes erreicht AXEL KOBER mit den DÜSSELDORFER SYMPHONIKERN nicht ganz die intendierte Leichtfüßigkeit von Strawinskys Musik, wird ihrem luzid retrospektivem Stil insgesamt jedoch sehr gerecht.
Christoph Zimmermann