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DRESDEN/ Semperoper: SIMON BOCCANEGRA

14.06.2014 | KRITIKEN, Oper

DRESDEN/Semperoper: Simon Boccanegra 13. Juni 2014

Erben des Hasses – Dornen des Schmerzes von Verdi mit Sehnsuchtsmusik ummantelt

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Zeljko Lucic in der Titelrolle. Foto: Matthias Creutziger

 Christian Thielemann hat die Premiere in der Regie von Jan Philipp Gloger am 30. Mai dirigiert. Nur dreimal stand der gerühmte Wagner und Straussdirigent zur Verfügung. In der Aufführung am 13. Juni hat Paolo Arrivabeni die musikalische Leitung übernommen. Ein echter Verdi-Fuchs, entlockt Arrivabeni der Dresdner Staatskapelle und dem Sächsischen Staatsopernchor Luxusklänge, wie man sie normalerweise von ausgesuchten Dirigenten höchstens an der MET, der Scala oder in Wien erleben kann. Verdi at his best mit einer Handschar exzellenter Solisten und einer fabelhaften Einspringerin. Barbara Havemann hat die erkrankte Maria Agresta kurzfristig ersetzt und überzeugte mit vollem Ton und leidenschaftlicher Emphase voll in der Figur der Amelia Grimaldi.

 Verdi hat für seine vielleicht experimentellste Oper einen Sehnsuchtsklang gefunden, der die besonders tragische Verquickung von Privatem und Politischem, des unentwirrbaren Ineinander von persönlicher Befangenheit und staatlicher Machtausübung in die Worte der Protagonisten injiziert und so direkt unter die Haut des Zuhörers geht. Eine psychologische Orchestersprache trägt das Geschehen, wie eine Filmmusik legt sich die Partitur über das Bühnengeschehen.

 Genua im 14. Jahrhundert oder eine der ethnisch oder religiös motivierten Bürgerkriege von heute. Das Volk ist leicht zu manipulieren, die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand der Auflösung, Krankheit wütet, Kriminalität und Schwarzmarkt blühen. Der Regisseur lässt die Figuren, besessen von ihrem Leid und ihren Erlebnissen, Geister sehen und die Vergangenheit als Alptraum erfahren. Schachtelartig ragt das düstere Bühnenbild (Christopher Hetzer) in drei Zeitebenen (Genua 14. Jhdt., Elemente aus Verdis Zeit und Spuren der Gegenwart) ineinander, blutrote Farbe blättert von den Brettern. Archaisch prallen Gewalt, Rache, Eifersucht und vermeintliche Besitzansprüche auf eine dünne Schicht an Demokratie und Zivilisation. Ein gutes, glaubwürdiges Konzept, in dessen Rahmen die Oper Verdis intensiv erfahrbar wird. Und in musikalischer Hinsicht ein eindringliches Plädoyer für eines der „schwierigeren“ Verdi Stücke. Das Libretto der zweiten Fassung von 1881 hat immerhin ein gewisser Arrigo Boito, der damals schon an Otello arbeitete, geschrieben.

 Als Simon Boccanegra reüssiert der serbische Bariton Zeljko Lucic und zeichnet mit samtener Tongebung ein einfühlsames Porträt des friedliebenden Dogen von Genua, der die Ratsherren vergeblich bittet, Frieden mit dem ewigen Rivalen Venedig zu schließen. Die Sterbeszene des vergifteten Boccanegra, in der er Fiesco versöhnen und Gabriele Adorno das Amt des Dogen überträgt, wird zu einem berührenden Appell an Menschlichkeit und Ausgleich im Sinne eines gemeinsamen Miteinander. Ein mehr als würdiger Nachfolger von Renato Bruson in dieser Rolle. Kwangchoul Youn als Jacopo Fiesco erreicht nicht denselben zwingenden Identifikationsgrad und eine ebenso scharfe Charakterisierungskunst, vermag aber mit gut geführtem Bass das Ensemble auf hohem Niveau zu stützen. Ramón Vargas als Gabriele Adorno ist ein besonderer Fall. Vargas ist von Timbre, Stil und sängerischem Typus her ein fantastischer Verdi-Interpret.  In der Höhe ist die Stimme ein wenig gefährdet, ähnlich wie das einstens bei dem wunderbaren G. Aragall der Fall war. Die Wahrhaftigkeit seines Singens erlaubt es ihm aber, die packenden Affekte der Figur eindringlich zu vermitteln. Mir ist das allemal lieber als eine technisch perfektere Stimme, deren Klang ich nach fünf Minuten vergessen habe.

Als seine Geliebte Amelia kann die eingesprungene niederländische Sopranistin Barbara Havemann voll überzeugen und erhält gemeinsam mit Lucic die größte Zustimmung des Publikums. Allein Markus Marquart als politischer Drahtzieher Paolo Albiani enttäuscht mich stimmlich mit einer nur durchschnittlichen Leistung. Andraes Bauer als Pietro und Christopher Kaplan (Mitglied Junges Ensemble Semperoper) als Hauptmann runden die Besetzung luxuriös ab.

 Der Sächsische Staatsopernchor Dresden (Einstudierung Jörn Hinnerk Andresen) verleiht der Stimme des Volkes Macht und Wucht. Die wenigen Chorszenen werden durch die hohe Stimmqualität des bestens vorbereiteten Ensembles zu Höhepunkten der gesamten Aufführung.

 Bei der Autofahrt von Berlin nach Dresden habe ich mir die Gavazzeni Aufnahme mit Cappuccilli, Domingo, Ricciarelli, Raimondo angehört und bei der Rückfahrt die Abbado Aufnahme mit Cappuccilli, Carreras, Freni, Ghiaurov.  Die Aufführung in Dresden spielt insgesamt musikalisch in derselben Liga. Das kann man heute nicht von vielen Aufführungen sagen. Hinfahren und anhören.

 Ingobert Waltenberger

 

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