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DRESDEN/Semperoper: LA SONNAMBULA von Vincenzo Bellini

Dresden/Semperoper:  „LA SONNAMBULA VON VINCENZO BELLINI – 22.3.2023

Vincenzo Bellinis, 1831 in Mailand uraufgeführtes „Melodramma“ „La sonnambula“ („Die Nachtwandlerin“) zählt neben seiner nur ein Dreivierteljahr später uraufgeführten „Norma“ zu seinen anerkannten Meisterwerken und den wenigen Werken des Belcanto-Repertoires mit einer lückenlosen Aufführungstradition (leider nicht in Dresden). Die deutsche Erstaufführung fand zwar vor fast 170 Jahren in Dresden (Morettisches Opernhaus) statt, aber danach wurde die Oper in der Elbestadt 130 Jahre lang nicht mehr aufgeführt, weshalb sie hier auch nur ausgesprochenen Opernenthusiasten bekannt war und deshalb das Parkett bei der Premiere (19.3.2023) einige Lücken aufwies. Das hatte sich schlagartig bei der zweiten Aufführung geändert. Da war kein freier Platz zu entdecken, denn was gut ist, spricht sich blitzschnell herum. „Flüsterpropaganda“ ist eben doch die beste Reklame, denn Qualität empfiehlt sich selbst.
 
Das Libretto der Oper stammt von Felice Romani nach Eugène Scribes Libretto zu einer Ballett-Pantomime von Jean-Pierre Aumer und Ferdinand Hérold, die wiederum auf einer gleichnamigen Vaudeville-Komödie von Scribe und Delavigne basiert. Entsprechend vielgestaltig erscheint dem heutigen Operbesucher auch die Handlung.
 
Kurz umrissen: ein Jüngling liebt ein Mädchen, der Gutsbesitzer Elvino das arme, von ihrer liebevollen Pflegemutter Teresa umsorgte, Waisenkind Amina, und will sich mit dieser vermählen. Das Mädchen liebt ihn auch, gerät aber nachts schlafwandelnd in das Zimmer des nach langer Abwesenheit heimgekehrten Sohnes des verstorbenen alten Grafen in der Herberge der Wirtin Lisa, die wiederum von Alessio begehrt wird, Elvino heimlich liebt und ihr Tuch im Zimmer des Grafen vergaß. Nach einigen Irrungen und Wirrungen, in deren Verlauf Elvino vor Eifersucht rast und schließlich Lisa heiraten will, gibt es zum Schluss doch noch ein Happy end, wenn der Grafensohn Rodolfo alles, auch wissenschaftlich, aufklärt.
 

Das ist eine alte Geschichte, die aber Bellini Anlass zu großartiger Musik im elegischen, weichen Stil der „Semiseria“ gab. Sie ist von „makelloser Vollkommenheit“, Leichtigkeit und Schönheit. Die Arien und Duette der beiden Protagonisten sowie der beiden Nebencharaktere Rodolfo und Lisa sind „unendliche“ Melodien von größter Sensibilität, Feinheit und Gefühlstiefe. Bellini verzichtet auf reines Virtuosentum und setzt die Koloraturen als Bestandteil des Ausdrucks ein. Im Vergleich zu seinen Seria-Opern hat „La sonnambula“ einen ganz eigenen Charakter von gefälliger Leichtigkeit, Beschwingtheit und Idylle, wobei die typischen Formen der Belcanto-Oper in Anlehnug an eine Pastorale fantasievoll variiert werden und die Grenzen zwischen Arie und Ensemble verschwimmen.

 Die Oper ist im ländlichen Milieu angesiedelt und schildert mit musikalischen Besonderheiten, elegischer Musik, koloraturreichen Arien und Duetten und großen Chorpartien ehrliche Liebe, Eifersucht, Verzweiflung und Hass, aber auch Vernunft und Güte. Rolando Villazón gab ihr mit seiner Inszenierung, einer Koproduktion der Semperoper mit dem Théâtre des Champs-Élysées, der Metropolitan Opera und der Opéra de Nice Côte d’Azur, die im November 2023 in New York zu sehen sein wird, eine etwas andere Richtung. Er orientiert auf psychologische Durchdringung und verlegt Gedanken und Gefühle der Titelfigur in die Gegenwart mit anderen gesellschaftlichen Konflikten als die vergangener Zeiten, die man heute nur noch aus historischer Sicht kennt.

Wenn sich der Vorhang hebt, erblickt der Besucher eine grandiose Großaufnahme der Schweizer Alpen, die die gesamte Bühne ausfüllt, einen verschneiten Geröllfluss inmitten gigantischer Berge. Danach erscheint die Welt zweigeteilt. In scharfem Kontrast stehen sich zwei konträre Welten gegenüber, auf der einen Seite die Bergwelt hoch da droben, die den Blick in die Weite und Erhabenheit der Natur lenkt (Bühnenbild: Johannes Leiacker) und durch unmerklich kontinuierliche Änderung der Beleuchtung (Davy Cunningham) den Ablauf der Tageszeit ankündigt und die Dramatik unterstreicht.

Auf der anderen Seite die Welt der verstockten, in Sitten, Glauben und Aberglauben befangenen Bewohner eines abgeschiedenen (Berg-)Dorfes in räumlicher und geistiger Enge befangen und gefangen, dargestellt in einem rechteckigen Raum mit minimalistischer Ausstattung, vielen Türen, die unter verschneiten Bergzacken als Dach die Hauseingänge symbolisieren, und einer gewöhnlichen Sprossenleiter, die den beschwerlichen Weg ins Dorf darstellen soll (und den Darstellern einiges abverlangt). Die Dorfbevölkerung wird zunächst als Menge in vorwiegend dunkler, stilvoller Kleidung (Kostüme: Brigitte Reiffenstuel) mit einheitlicher Meinung und gleichen Ansichten dargestellt, was sich in vorwiegend einheitlichen Bewegungen ausdrückt, mitunter erstarrt wie in einer Momentaufnahme.

Meist in der übergeordneten Bergwelt „geistert“ Spirit, eine wie Amina weißgekleidete Gestalt herum (Choreografie: Philippe Giraudeau), die mit ihr korrespondiert, ihr öfters zuwinkt und sie leitet – die gespaltene Persönlichkeit Aminas, ihr Traum von Freiheit und Entfliehen aus der Enge des Dorfes.

Am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden steht erstmals der Spezialist für historische Aufführungspraxis von Belcanto-Opern, Evelino Pidò. Er ließ das Orchester alle Feinheiten und dramatischen Momente qualitätvoll ausmusizieren und den Sängerinnen und Sängern Raum zur Entfaltung, die sie gesanglich und auch darstellerisch gut nutzten.

Der besondere Publikums-Magnet war Emily Pogorelc, eine junge, hochbegabte und vielversprechende Sopranistin, die die umfangreiche, sehr anspruchsvolle, einst für die legendäre Giuditta Pasta komponierte Titelpartie der Amina mit Bravour sang. Ihre stimmliche Präsenz, frappierende Technik und Exaktheit, ihre schlafwandlerische Sicherheit, vor allem auch in der Höhe, und ihre Ausdrucksfähigkeit, sind bewundernswert und begeisterten. Ergänzt durch ihre beeindruckende, differenzierende Darstellung verlieh sie der Titelfigur eine lebensvolle und liebenswerte Ausstrahlung.

 Die spanische Sopranistin Rosalia Cid, eine ebenfalls faszinierende Sopranistin, die mit klarer, wandlungsfähiger Stimme die Lisa gesanglich überzeugend und weniger eifersüchtig als vielmehr auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück gestaltete, war zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne zu erleben und gab damit ihr Haus- und Rollendebüt. Sie beeindruckte mit ihrer Rollengestaltung und den mit überzeugender Leichtigkeit gesungenen Koloraturen.

Georg Zeppenfeld, der mit seiner sonoren, wohlklingenden, fundierten Bassstimme jede Rolle adelt und sich mit seiner Ausdrucksfähigkeit und darstellerischen Vielseitigkeit in jede Opernfigur „einleben“ und sie überzeugend gestalten kann, verlieh hier dem Grafensohn nicht nur natürliche Würde und Noblesse, wenn er für Vernunft und Gerechtigkeit sorgt, sondern gab ihm auch eine menschliche Seite, wenn er sich an seine Kindheit und Jugend im Dorf erinnert und Bewunderung für die Schönheit der beiden Mädchen Amina und Lisa äußert. Möglicherweise ist Amina seine Tochter, denn ihre Augen erinnern ihn an seine frühere Greliebte (Alminas verstorbene Mutter), womit auch erklärt wäre, warum der, ein „lockeres“ Leben gewohnte, Grafensohn Amina „verschont“ und sehr engagiert verteidigt.

Mit der Partie des Elvino, die vor allem fein nuancierte Zwischentöne verlangt, gab der russische Tenor Maxim Mironov sein Rollendebüt und gestaltete sie mit hellem, tragfähigem Tenor als schon eher weltoffeneren, wenn auch sehr exakten, die strengen Sitten achtenden, Gutsherren.

Reut Ventorero gab eine im Rahmen der strengen Dorfgemeinschaft immer liebevolle, liebenswerte, Schutz und Verständnis spendende Pflegemutter für Amina. In weiteren Rollen ergänzten Martin-Jan Nijhof mit überzeugender Darstellung und gutem Gesang als Alessio und Gerald Hupach als Notar das Geschehen.

Die in dieser Oper ungewöhnlich wichtigen Chorpartien, die auch eine besonders aktive Rolle spielen, lagen beim Sächsischen Staatsopernchor Dresden und Kinderchor (Einstudierung: Jonatham Becker) in sehr guten Händen bzw. Kehlen. Sie trugen die Handlung und hielten sie im Fluss, sorgten für entsprechende Stimmungen, setzten Akzente und unterstrichen die Wirkung der solistischen Partien.

Der jubelnde Applaus und die euphorische Stimmung am Ende gingen nicht zuletzt auch von den zahlreichen jugendlichen Besuchern aus.

Ingrid Gerk

 

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