Dresden / Semperoper: „LA BOHÈME“ – WIEDERAUFNAHME – 5. 11. 2013
Cafe Momus. Foto: Semperoper
Als die Inszenierung von Christine Mielitz 1983 neu war, war man nur wenig begeistert. Jetzt, nach ihrer Wiederaufnahme (2.5.2013), gehört sie zu den besten, die in der Semperoper (noch) laufen. Es ist eben alles relativ.
Wenn sich der Vorhang hebt, wird man von einem windigen Dachatelier empfangen, in dem die erfolglosen Künstler hausen, hoch über den Dächern von Paris, die im Hintergrund fast bedrückend an die Wolkenkratzer von New York erinnern, später durch geschickte Beleuchtung zur Glas-Veranden-Architektur im Pariser Nobelcafé „Momus“ werden und im 3. Akt zu einer echt Pariser Mietshaus-Häuserfront (Bühnenbild und Kostüme: Peter Heilein).
Die Kostüme, vor allem im 2. Akt, zaubern echte Opernatmosphäre, mit der man in die Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jh. eintauchen kann. Es war wohltuend, einmal nicht die übliche Gegenwarts- und Alltagskleidung der Jetztzeit auch noch auf der Bühne zu sehen.
Die Inszenierung ermöglicht noch in guter alter Theatertradition die Vermittlung der Problematik der ursprünglichen Opernhandlung und das Nachempfinden der Situationen und Gefühle der handelnden Personen, nicht nur die sehr individuelle Gedankenwelt eines Regisseurs. Die Inszenierung entstand in einer Zeit, als man froh war, als „Export-Oper“ den Zwängen des „sozialistischen Realismus“ entronnen zu sein. Der Ehrgeiz mancher Regisseure, die die Opern unbedingt auf den Kopf stellen müssen, um alles anders zu machen, als gewohnt und erwartet, trieb damals noch keine Blüten.
Mit dieser erfreulichen Wiederaufnahme (mit kleinen Änderungen) hatte Rachel Willis-Sorensen ihr Rollendebüt als Mimi. Nach Statur und Stimme scheint sie eher für eine Wagner-Frauen-Rolle prädestiniert, was auch immer wieder „durchschimmerte, aber sie versuchte erfolgreich auch dieser Rolle und Inszenierung gerecht zu werden und ihrer eher fürs dramatische Fach geeigneten Stimme hin und wieder auch lyrischen Schmelz zu verleihen.
Sie war weniger die schlichte, zierliche, naiv-betuliche und kränkelnde Mimi, die man kennt. Sie überzeugte durch relativ große, gut klingende Stimme, die immer übers Orchester kam, etwas mehr Dramatik als gewohnt und ein ernsthaftes Bemühen um die Rollengestaltung, wenn auch manche Geste, manche Bewegung etwas impulsiv wirkte. Sie konzentrierte sich auf den Gesang und war damit die zentrale Gestalt der Aufführung. Es war endlich wieder einmal eine große Stimme, deren es an der Semperoper nur noch wenige gibt. Sie ließ die Schönheit der Musik Puccinis wieder aufleben und die Erinnerung an zum Teil großartige Aufführungen an gleicher Stelle, was zu einigen Hoffnungen berechtigen dürfte. Sie steigerte sich immer mehr, bis sie im 4. Akt ganz „aus sich heraus ging“. Zu Recht erhielt sie zum Schluss enthusiastischen Applaus.
Im konträren Gegensatz dazu war Nadja Mchantaf eine echte, frech-frivole Musetta, auch ein bisschen ordinär – eine echte femme fatale, die ihren Auftritt im „Momus“ zur großen Szene ausbaute, und im Kontrast zu ihrem distinguierten Begleiter, die Spannungen zwischen dem ungleichen Paar auskostete. Dieser Begleiter wurde sehr glaubhaft und ohne Übertreibung von Rainer Büsching als alternder, leicht verführbarer, letztendlich aber doch noch seine Würde durch einen zwar enttäuschten, aber entschiedenen Abgang wahrender Staatsrat, verkörpert – auch kleine Rollen können sehr beeindrucken! –
Nadja Mchantafs soubrettenartiger Gesang passte zu ihrer Rolle als Musetta. Allerdings hätte man sich im 4. Akt beim „Ave Maria“, wenn sie für die todkranke Mimi betet, doch etwas mehr Schmelz in der Stimme und erschütternde Beseeltheit gewünscht, wie sie bei ihren Vorgängerinnen immer so sehr beeindruckte.
Als Partner der beiden markanten Frauenrollen agierten Arnold Rutkowski als Rodolfo mit guter Rollengestaltung und Ansätzen zur großen Kantilene, aber auch ein wenig spröder Stimme und der für den erkrankten Markus Butter eingesprungene Zachary Nelson als Marcello, der sich durchaus bemühte, der Rolle gerecht zu werden, aber wenig Charme versprühte.
Der Charakter der beiden konträren, sich liebenden und doch trennenden Paare, wie sie unterschiedlicher auch im Gesang nicht sein konnten, kristallisierte sich sehr gut als schroffer Gegensatz im wohlabgestimmten Quartett des 3. Aktes heraus – Rodolfo und Mimi lyrisch-gefühlvoll und das streitende Paar, Musetta und Marcello leidenschaftlich, wütend und endgültig.
Als Hausbesitzer Benoit setzte Peter Lobert seine angenehme, tragfähige Stimme ein und wirkte in seiner, wenn auch nicht großen, Rolle mit einem kleinen Schuss bürgerlicher Distinguiertheit ausgesprochen glaubhaft.
Ohne große Emotionen bemühte sich Tomislav Lucic als Colline um die „Mantel- Arie“, und Ilhun Jung bewegte sich als Schaunard recht unbekümmert wie ein jugendlicher Eleve auf der Bühne, als hätte er noch nicht das entbehrungsreiche Leben dieser Künstler-Gesellschaft kennengelernt.
Das Allerbeste aber war die Sächsische Staatskapelle Dresden. Sie spielte großartig unter der Leitung von Julian Kovatschev vom ersten bis zum letzten Ton mit großem Können und Hingabe und traf genau den Nerv von Handlung und Musik. Sie war das verbindende Element und sichere Fundament, das die Sänger trug. Es war eine seltene, beglückende Harmonie zwischen Sängern und Orchester. Eine wunderbar feinfühlige Violinstimme unterstrich berührend den tragischen Ausklang im letzten Akt, erschütternd und tröstend zugleich.
Dass der begeisterte Applaus erst nach langem betroffenem Schweigen einsetzte, war wohl das schönste Kompliment dafür und ein Beweis, dass die Opern vergangener Jahrhunderte auch im Heute noch „ankommen“ und emotional berühren, wenn sie entsprechend gesungen und gespielt werden, ohne dass sie gewaltsam in die Jetztzeit gezerrt werden müssen.
Es war endlich wieder einmal „große Oper“, wie man sie hier in den letzten Jahren leider öfters vermisste.
Ingrid Gerk