Dresden / Semperoper: „KÖNIGSKINDER“ VON ENGELBERT HUMPERDINCK – 29.12.2014 (Pr. 19.12.2014)
Tomislav Muzek (Königssohn) und Barbara Senator (Gänsemagd). Foto: Matthias Creutziger
Wer denkt nicht bei Engelbert Humperdinck an seine Märchenoper „Hänsel und Gretel“, die ursprünglich „nur für den privaten Gebrauch“ gedacht war, aber mit ihrer eingängigen Musik zum Publikumserfolg wurde, der bis heute anhält und immer wieder neue Generationen begeistert. An diesen Erfolg und die Popularität wollte Humperdinck mit den „Königskindern“ gern anknüpfen, aber es wurde eine ganz andere Oper, die die romantische Oper im herkömmlichen Sinne eher „zu Grabe trägt“. Hatte Humperdinck für „Hänsel und Gretel“ eine eigene Musiksprache gefunden, so entwickelt er in den „Königskindern“, nachdem der 1. Fassung als Melodram bei der Wiener Uraufführung kein Erfolg beschieden war, einen eigenen durchkomponierten melodramatischen Stil, der später von Arnold Schönberg weiterentwickelt wurde.
Es beginnt wie ein Märchen, wird aber bald zum Antimärchen, das in der Realität endet und bis in die Neuzeit reicht. Durch die Dresdner Inszenierung von Jetske Mijnssen wird der Stoff noch weiter überhöht und fast verfremdet und noch mehr durch Bühnenbild und Kostüme von Christian Schmidt. Es gibt zwar viele Anleihen und Parallelen zu anderen Märchen, aber ein übliches Märchen ist es trotzdem nicht, schon gar keines für Kinder oder die ganze Familie. Hier siegt nicht das Gute über das Böse, sondern Selbstsucht, Habgier und Brutalität über Natürlichkeit und humanistische Werte. Die beiden Liebenden, die das Gute suchten, erfrieren im Schnee. Der Königssohn bedauert, sein warmes heimisches Nest, in das er nicht zurückfindet, jemals verlassen zu haben. Und die Moral von der Geschicht‘? Selbstverwirklichung funktionierte damals nicht?
Obwohl nach Elsa Bernsteins, an Wagner orientiertem Text in unnatürlichen Redewendungen die Handlung wie in den meisten Märchen im Wald mit einsamer, geheimnisvoller Hütte angesiedelt ist, empfängt den Besucher, wenn sich der Vorhang hebt, eine großbürgerliche Villa aus der 1. Hälfte des 20. Jh., mit großer Treppe, sehr solide gebaut und auch ein Blickfang, aber von Natur kaum eine Spur, bis auf eine riesige Zimmerpflanze die durchs Fenster ins Haus ragt. Die Villa fungiert während der 3 Aufzüge der Oper als Hexenhaus im sommerlichen Wald, großbürgerlich-städtischer Partyraum und Rathausplatz der verworfenen Hellastadt und schließlich wieder als winterliche Natur, wenn Schnee in die zerfallende „Hexen“-Villa rieselt (die Hexe wurde verbrannt) und die große Zimmerpflanze von außen ihre kahlen Äste in das Haus streckt.
Unverständlich wird es, wenn die Besenkammer unter der Treppe zum einsamen Haus im Wald mutieren soll und der Überlebenskampf um diesen einen unscheinbaren Raum beginnt, wo doch noch mehr und schönere Zimmer zu sehen sind. Trotz Verwandlungen von Aufzug zu Aufzug verleiht das Bühnenbild der Aufführung einen gewissen statischen Charakter.
Es ist zwar ein sehr schönes (Einheits-)Bühnenbild, das beim Publikum ankommt, aber es würde besser zu einer anderen Oper passen, auch wenn es damit begründet wird, dass die Textdichterin wie hellseherisch die Jahrzehnte später einsetzende Entwicklung der Naziherrschaft vorweggenommen hatte, die sich später in München auf der Straße abspielte, in der sie wohnte, und während der sie, wenn auch als von Winifred Wagner Protegierte ins KZ deportiert wurde. Dieser Bezug hätte auch anders dargestellt werden können. Warum nicht die Villa im Hintergrund als (gemalte) Zukunftsvision? Liegt nicht gerade in dem Kontrast zwischen der (damals noch als rein geltenden) Natur als dem Natürlichen, Ehrlichen und Aufrichtigen und dem modernen Stadtleben die Brisanz dieser Oper? So muss das Publikum erst durch Einführungsvorträge, Programmheft und weitere Artikel aufgeklärt werden. Es ist mühsam, gleichzeitig eine neue Oper kennenzulernen, die Musik zu erfassen, sich auf die Sänger zu konzentrieren und auch noch die Übertitel zu lesen und die Handlung parallel in ihrer ursprünglich gedachten Umgebung und der im Bühnenbild dargestellten zu durchdenken.
Es gibt zwar Märchengestalten wie Spielmann, Holzhacker, Besenbinder und Königssohn, aber durch die „gepflegten“ Alltagskostüme mit perfektem Anzug und Hut, geht auch dieser Symbolcharakter verloren. Die Gänsemagd erscheint im gepflegten Jungmädchen-Look der 1930er Jahre, die Hexe als gepflegte Hausfrau usw. Die Gänse (die eher Enten ähneln) werden von „Tanzkindern“, den kleinen Tänzerinnen der Ballettschule Semper mobilis, sehr hübsch und mit natürlichen Bewegungen dargestellt, auch wenn sie nur Tierköpfe tragen und nur 1 Flügel haben (das hatten wir doch schon bei der „Titus“-Inszenierung“ mit der Titelgestalt als einflüglichem Adler). Als possierliche Katze und die Täubchen hatten Mitglieder der Kinderkomparserie ihren Auftritt. Um offenbar an den „Erfolg“ des Slapstick-Outfits der beiden Liebhaber in „Cosi fan tutte“ anzuknüpfen, wurde die Tochter des Besenbinders als Gefährte des Spielmanns und Fidelkastenträger „umfunktioniert“. Hier wie da wurde das sehr unterschiedliche Größenverhältnis ausgenutzt. Spielmann und Gefährte tragen gepflegtes „Zuhälter“-Outfit der 20er Jahre, das eigentlich gar nicht zur positiven Rolle des Spielmanns passt.
Dieser kann laut Rolle in die Herzen der Menschen hineinschauen. Christoph Pohl sang sich als Spielmann mit seiner klangvollen Stimme in die Herzen der Besucher und gestaltete seine Rolle sehr glaubhaft und natürlich. Barbara Senator, die als Gänsemagd ihre erste Sopranhauptpartie übernommen hatte – bisher sang sie Mezzosopran-Partien – berührte mit ihrem Gesang besonders in der Szene, als sie sich in selten schöner Überseinstimmung mit dem Orchester als Gänsemagd im Gedenken an ihre „verworfenen“ und gestorbenen Eltern durch die Liebe, zu der sie der Spielmann ermuntert, von der klammernden Großmutter alias Hexe befreit, die von Tichina Vaughn dargestellt und mit schriller Stimme gesungen wird. Sie hat bereits „Hexenerfahrung“ durch „Rusalka“ und „Hänsel und Gretel „.
Dem nüchternen Königssohn von Tomislav Muzek hätte man gern etwas mehr Wärme und Ausstrahlung gewünscht. Michael Eder als Holzhacker und Tom Martinsen als Besenbinder gaben ihren Gestalten nur wenig Profil. Äußerlich erfüllte Rebecca Raffel ihre Rolle als dicke Stallmagd, in der Inszenierung als Hausangestellte verkleidet, durchaus, ihre Stimme war allerdings weniger opulent. In weiteren Rollen traten auf: Christina Böck als verwöhnte neureiche Tochter, deren Verführungskünste beim Königssohn fehlschlagen, der immer zuverlässige Gerald Hupach als Schneider, Alexander Hajek als wenig markanter Wirt und der gut singende und spielende Matthias Henneberg als Ratsältester im Rollstuhl, der sportlich fit den Schlussapplaus in Empfang nahm.
Für den keinen Benjamin Hünig vom Dresdner Kreuzchor war es eine beachtliche Leistung, den ganzen langen Abend durchzuhalten und immer wieder sehr gut und mit hübscher Stimme u. a. sehr reizend vom „Ringelrosenbusch“ zu singen, obwohl die Stimme eigentlich für den großen Opernraum doch sehr zart war. Auffallend schön und sehr gut vorbereitet sang der Kinderchor der Sächsischen Staatsoper (Einstudierung: Claudia Sebastian-Bertsch).
Wirklich märchenhaft spielte die Sächsische Staatskapelle Dresden. Wie sehr ein gutes Orchester die Aufführung beeinflussen kann, wurde hier einmal mehr deutlich. Bei den ersten Takten wurde noch sehr der Einfluss Richard Wagners hörbar, dick aufgetragen von Mihkel Kütson am Pult. Im Laufe der Aufführung steigerte sich die Kapelle bis zu ihrer berühmten Qualität. Sie trug die Handlung – auch über manche weniger gelungene Sängerleistung hinweg, spielte nicht nur märchenhaft schön mit ihren sprichwörtlichen feinen Pianissimo-Passagen und einem feinnervigen Violinsolo, ausgehalten bis zum letzten verhauchenden Ton, sondern machte auch perfekt die Verbindung zwischen heldenhaft und gefühlvoll, Wagner-Nachfolge und dem persönlichen Stil des Wagner-Epigonen Humperdinck deutlich.
Ingrid Gerk