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DRESDEN/ MORITZBURG UND UMGEBUNG: MORITZBURG-FESTIVAL

Dresden, Moritzburg und Umgebung / MORITZBURG FESTIVAL – 15. – 30.8.2015

Unbenannt
Foto: Moritzburg-Festival

 Das Moritzburg-Festival, das in diesem Jahr zum 22. Mal stattfand, bot wieder eine Fülle erlesener Kammermusik. Es war, wie der Intendant Jan Vogler resümierte, „… ein besonders inspirierender Jahrgang mit … einer unglaublich frischen Atmosphäre bei den Kammermusikproben und Konzerten. Das Resultat waren viele magische musikalische Momente, die uns allen lange in Erinnerung bleiben.“

 Viele Jahre führte die Kammermusik, eine der edelsten Musikgenres, selbst in der reichen Musiklandschaft Sachsens eher ein mehr oder weniger Schattendasein – vor allem bei den jungen Musikern -, bis 1993 drei Vertreter der 1. Pulte der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Kai Vogler, 1. Konzertmeister, und die damaligen Konzertmeister Violoncelli Peter Bruns und Jan Vogler nach dem Vorbild des Marlboro Festivals in den USA das Moritzburg Festival für Kammermusik gründeten, das Jan Vogler seit 2001 allein leitet und dass sich inzwischen zum renommiertesten Kammermusik-Festival Deutschlands mit großer internationaler Ausstrahlung entwickelt hat.

 Ein reizvoller Ort war bald gefunden, das 15 km nordwestlich von Dresden gelegene Moritzburg mit seinem barocken märchenhaften Jagdschloss, dessen eine Achse zu der Anfang des 20. Jh. erbauten Kirche, die trotz Jugendstil dem barocken Baustil des Schlosses ideal angepasst wurde, führt, und eine andere auf das verspielte „Fasanenschlösschen“, das kleinste Schloss Sachsens mit vollständiger Rokoko-Hofhaltung und entsprechenden Außenanlagen wie einem (Mini-)„Leuchtturm“ im Binnenland und den nachgestalteten „Dardanellen“, wo 1770 eine Seeschlacht, bei der die russische Flotte die Türken besiegte, zur Unterhaltung der kurfürstlichen Gesellschaft „nachgespielt“ wurde. Das alles gehört zur einer idyllischen Teichlandschaft mit ihren „Himmelsseen“, die nur vom Regen gespeist werden – eine ideale Verbindung von Musik, barocker Architektur, Natur und Kunst.

 Das Moritzburg Festival bietet vor allem jungen, talentierten Musikern die Möglichkeit gemeinsam mit älteren, erfahrenen Instrumentalisten zu proben und die gemeinsam erarbeiteten Programm in rund 20 Veranstaltungen vorzustellen, wobei auch immer ungewöhnliche Veranstaltungsorte wie die Gläserne Manufaktur von Volkswagen und die Flugzeugwerft in Dresden, das Konzerthaus in Berlin und das König-Albert-Theater in Bad Elster mit einbezogen werden. Der „Baum des Moritzburg-Festivals wächst und verzweigt sich“.

 In diesem Jahr standen neben dem „unbekannten“ Ludwig van Beethovens mit selten gespielten Werken die Kompositionen des derzeit vorwiegend in New York lebenden Matthias Pintscher (*1971), Komponist, Musiker und Dirigent, als Composer in residence im Fokus, darunter eine Uraufführung. Von den diesjährigen 14, zum Teil XXL-Konzerten, wie der „Langen Nacht der Kammermusik“, 2 vorangestellten 30minütigen Porträtkonzerten und 3 öffentlichen Proben können hier stellvertretend nur einige repräsentative, besonders charakteristische Veranstaltungen näher betrachtet werden.

 Das traditionelle PROSCHWITZER MUSIK- PICKNICK (16.8.), das alljährlich auf den Wiesen des weitläufigen, inmitten von Weinbergen gelegenen, Parks von Schloss Proschwitz (Ortsteil von Meißen) stattfand und der 2006 gegründeten Moritzburg Festival Akademie vorbehalten ist, wurde in diesem Jahr wetterbedingt in die Räume der Beletage des Schlosses verlegt, das in der Nachkriegszeit enteignet, artfremd genutzt und dadurch stark heruntergewirtschaftet wurde, aber durch die Initiative des Schlossherrn Prinz zur Lippe in alter und neuer Schönheit wie ein Phönix aus der Asche wieder erstand. Neben dem zusätzlichen Kunstgenuss und schönen Raumeindruck ließen die akustischen Verhältnisse naturgemäß die Fähigkeiten der 39 jungen Musikerinnen und Musiker, die durch ein international ausgeschriebenes Auswahlverfahren von 300 Bewerbern aus 20 Nationen ausgewählt wurden, besser zur Geltung kommen als bei einem Open-Air-Konzert.

 Die Moritzburg Festival Akademie hat sich unter der Leitung der Violinistin Mira Wang„, die bei einigen Konzerten auch selbst zu ihrer Violine griff, innerhalb kurzer Zeit zu einer internationalen, innovativen und kreativen musikalischen Werkstatt und einem der wichtigsten Nachwuchs-Projekte Deutschlands entwickelt. Die jungen Künstler proben schon im Vorfeld 1 – 2 Wochen vor dem Festival gemeinsam für ihr Programm, bei dem nicht immer das komplette Werk zur Aufführung gelangen kann, mitunter nur ein Satz.

 In diesem Akademie-Konzert erklangen von Zoltan Kodaly ein mit viel Vehemenz und Spielfreude präsentierter Satz aus einem Streichtrio, von Bela Bartok ein gefühl-, aber auch temperamentvoll gespieltes Duo für Streicher mit viel Sinn für die volksmusikalische Melodik und den tänzerischen Charakter des Werkes, ein perfekt ausgeführtes Streichtrio von Ludwig van Beethoven und ein Quartett für Flöte, Klarinette, Horn und Oboe von Antonin Dvorák (Bearbeitung) in schöner Klangfülle und mitunter auch die „sanfte“ Seite seiner Musik beleuchtend. Allgemeine Bewunderung galt einem Dreizehnjährigen aus Belgrad für die perfekte Wiedergabe eines Satzes der Cellosonate Nr. 1 von J. S. Bach.

 Allen Ausführenden war viel Enthusiasmus, Temperament und Musikalität bei ihren, mit erstaunlicher Perfektion gespielten, Stücken anzumerken. Trotz kurzer Probenzeit und oft neuer Zusammensetzung der Kammermusik-Ensembles waren die jungen Musiker aus den verschiedensten Nationen ausnahmslos sehr gut aufeinander eingespielt und musizierten einträchtig miteinander.

 Zur Tradition gehören die, einem Konzert vorangestellten, PORTRÄTKONZERTE in der Moritzburger Kirche, in deren erstem der Schweizer Pianist Francesco Piemontesi (22.8.) Gelegenheit hatte, in einem 30minütigen Konzert seinen eigenen Stil und sein Können zu präsentieren. Im Gegensatz zu anderen Konzerten dieser Reihe, bei denen die Interpreten gelegentlich auch einige Erläuterungen gaben, hatte er sich für ein „Konzert ohne Worte“ entschieden. Er ließ die Musik sprechen, zunächst mit harten (An-)“Schlägen“ bei dem relativ kurzen „Klaviertück V“ von Karlheinz Stockhausen (1928-2007), ursprünglich eine Studie der 1950er Jahre als Gegenstück zu Chopin. Technisch versiert, ließ er diese harten, wuchtigen Klänge im Raum stehen und hin und wieder die leisen, lyrischen Töne mit weichem, klangvollem Anschlag kontrastreich durchschimmern. Dieser Kompositionsstil mit entsprechender Interpretation, der schon langsam in Vergessenheit geraten war, wurde von ihm neu belebt. Die Distanzen zwischen den Tönen und Akkorden assoziierten viel (atmosphärische) Stille, eine wartende Distanz zwischen Raum und Zeit, für Piemontesi „eine Art von Wahrnehmungsstudie“, oder aber eine innere Leere eines sich in der Isolation seiner Welt verloren fühlenden Menschen?

 Hielt sich Piemontesi bei Stockhausen noch an die Noten, beherrschte er L. v. Beethovens“ Sonate Nr. 31 As-Dur (op. 110) aus dem Gedächtnis. Wenn auch mit reichlich (etwas zu viel) Pedal für den nicht allzu großen Raum bei geöffnetem Flügel war jeder Ton klar zu vernehmen, hatte er die Musik gut erfasst, ließ große Kantilenen erklingen und setzte auf große Kontraste. Hartes Fortissimo traf mit viel, mitunter jugendlich ungestümem Temperament auf ein gutes Pianissimo mit weicherem Anschlag in sehr schönen, lyrischen Passagen. Obwohl zuweilen das Pedal, das für größere Räume berechnet schien, manches überschallte, waren seine pianistischen Fähigkeiten, vor allem seine perfekte Technik, aber auch gutes musikalisches Empfinden als Kernpunkte seiner Interpretation zu erkennen. In einer gut durchgearbeiteten Konzeption gestaltete er die Sonate mit Intelligenz, spannte weite musikalische Bögen und setzte Anschlagsstärke und Tongebung folgerichtig im Sinne der Komposition ein, bei der er sich offensichtlich an den großen Pianisten der Vergangenheit orientierte. Mit viel Temperament und jugendlichem Überschwang wurde seine Interpretation zum „Triumph des Geistes über Zwistigkeiten“ und in die Gegenwart geholt.

 Ohne Worte bedankte er sich für den Applaus mit dem „Menuett“ aus der „G-Dur-Suite“ von G. F. Händel.

 Im nachfolgenden KONZERT (22.8.) überließ er den Bösendorfer-Flügel Alessio Bax und Lucille Chung, die in perfektem Zusammenspiel und überbordendem Temperament hinreißend die „Tangos für Klavier zu vier Händen“: „Lo que vendrá“, „Milonga del ángel“ und „Libertango“ von Astor Piazolla (1921-1992) in einem eigenen Arrangement boten und damit in besonderer Weise die programmatische Breite des Festivals bereicherten. Wenn auch das Pedal anfangs wieder für leichte „Überschallung“ sorgte, trat es schließlich in Anbetracht der äußerst virtuosen, rhythmisch durchpulsten, zuweilen „swingenden“ Wiedergabe völlig in den Hintergrund. Ganz unisono, mit völlig übereinstimmendem Temperament, das gebändigt unter der Oberfläche glimmt, bis es bis zum Überschäumen aufrauscht, spielten beide wie 1 Herz und 1 Seele. Er „umarmte“ sie, um zu den tieferen Tastenbereichen zu gelangen. In minutiösem Zusammenspiel durchdrangen sich Tänzerisches und Durchkomponiertes, Exotisches und Vertrautes. Sie „legten“ sich in die Wellen der Musik bis zum Aufrauschen in einer besonderen Art gemeinsamer Glissandi. Bis zum Höhepunkt getrieben, beendete ein furioser, gemeinsamer, leicht dissonanter Schlussakkord, als wollte er den Flügel zum „Bersten“ bringen, folgerichtig die virtuosen „Hexenkünste“. Bei solcher Wiedergabe ist der Tango nicht aus der Mode gekommen, so vital lebt er weiter.

 Im zuvor dargebotenen „Hornquintett Es-Dur KV 407“ von W. A. Mozart brillierte der Ausnahme-Hornist in doppelter Hinsicht Felix Klieser. Ohne Arme geboren, bedient er die Ventile mit großer Geschicklichkeit mit dem linken Fuß wie andere Musiker mit der Hand. Das Horn lagert auf einem Stahlgestell und ermöglicht ihm, die Töne perfekt zu formen, wobei auch sehr knifflige, schnelle Passagen kein Problem für ihn sind. Bei ihm wird deutlich, was ein starker Wille vermag. Nicht nur wegen dieser Besonderheit, sondern vor allem wegen seines schönes Tones und großen Könnens ist er ein gefragter Hornist. Das „Hornquintett“ ist nach seiner Meinung noch typischer für Mozart als seine Hornkonzerte. Klieser spielt es sehr gern und – wie man hören konnte – in sehr guter Qualität. Sein Horn dominierte, ohne vordergründig zu sein, mit guter Phrasierung und in gutem Zusammenspiel mit den übrigen Quintett-Partnern. Beim Moritzburg Festival war er in diesem Jahr Einsteiger und trat auch in weiteren Konzerten auf. Ihm gefällt besonders, dass die Teilnehmer viel Zeit miteinander verbringen, mehr als bei anderen Festivals. Es ist sehr viel persönlicher.

 Eine Besonderheit des Hornquintetts ist die Besetzung mit 2 Violen, hier gespielt von Yura Lee, die gleich gut Violine und Viola spielt und mit beiden Instrumenten während des Festivals zu hören war, und Lawrence Power. Von Mira Wang, der Primaria, waren hin und wieder feinsinnige, lyrische Piano-Takte zu hören. Den Violoncello-Part hatte Christian Poltéra übernommen, der in anderen Konzerten auch solistisch auftrat.

 Das dritte, sehr gegensätzliche Werk an diesem Abend war das „Klavierquintett g-Moll“ (op. 30) von Sergej Tanejew (1856-1915), einem russischen Komponisten stilistisch zwischen Tschaikowski, seinem Lehrer, und Rachmaninow, einem seiner Schüler, zu denen auch Skriabin und Glière gehörten. Die Ausführenden Alessio Brax, der für den Klavierpart sein Tango-Temperament perfekt auf die sanftere Musik Tanejews herunter transformierte, Henning Kraggerud und Annabelle Meare, Violine, Lawrence Power, Viola und Guy Johnston, Violoncello orientierten weniger auf gehobene, schöngeistige “Salonmusik“, der man die Komposition dem Charakter nach ohne negative Bedeutung zuordnen möchte, die jedoch Tanejew schon wegen ihrer kleinen Form größtenteils fremd war, sondern gaben dem Werk in seinen sinfonischen Dimensionen eine herzhafte, temperament- und kraftvolle Note, wenn auch im Verhältnis zum mehr geistreich unterhaltenden Charakter dieses Quartetts zuweilen vielleicht etwas zu kraftvoll, „zu dick aufgetragen“, womit sie mehr Temperament hineinlegten, als drin ist.

 Schienen im 1. Satz noch Eingewöhnungsprobleme mitzuschwingen, gelang das „Scherzo“ des 2. Satzes mit viel Temperament und einigen wirklich witzigen musikalischen Einfällen und lustigem kleinem „Schwänzchen“ am Schluss. Im sinnreich gespielten „Largo“ des 3. Satzes siegte die Musikalität, hatten die Ausführenden den Zugang zu dieser gefälligen, schöngeistig unterhaltenden Musik mit ihren melodiösen Passagen und musikalischen Linien gefunden. Immer abwechslungsreich, mit immer neuen musikalischen Episoden, gewaltig und dann wieder zart, wechselten die Musiker von einer Passage nahtlos in eine andere. Es gab keine Absätze. Insofern hatten sie Tanejew verstanden, dessen Musik genial von einer musikalischen Episode in eine andere wechselt. Es heißt, man muss sie mehrmals hören, um die genialen Wendungen wahrzunehmen, auch wenn sie einem gewissen Akademismus verhaftet scheint. Gut gespielt, erkennt man viel Positives, das sich nicht beim ersten Hören erschließt, auch wenn Tanejew nicht unbedingt in die erste Reihe der bedeutendsten Pianisten gehören mag.

 Zwei der ganz Großen der Musikgeschichte waren dann im KONZERT im Monströsensaal des Moritzburger Schlosses (25.8.) zu erleben: Ludwig van Beethoven mit seinem „Streichtrio c-Moll“ (op. 9/3) und Johannes Brahms mit dem „Klavierquartett Nr. 3 c-Moll (op. 60). Wegen Erkrankung von Jan Vogler, der nicht nur die Dresdner Musikfestspiele und das Moritzburgfestival leitet, sondern auch weiterhin sein Cellospiel solistisch und im Ensemble pflegt, hatte Christian Poltéra neben seinem ursprünglichen Cellopart in einer Komposition von Matthias Pintscher auch den bei Beethoven und Brahms übernommen und trotz so kurzen Einspringens mit seinem geschmeidigen, farbenreichen, mitunter auch kraftvollen Celloton zu dem perfekt abgestimmten Zusammenspiel aller Beteiligten beigetragen, bei dem auch (jetzt allgemein üblich) manch scharfer Strich der Violine (Karen Gomyo) und Viola (Adrien La Marca) im herzhaften, technisch perfekten Spiel mitschwang. Inhaltlich hatten sich die 3 Ausführenden das Trio ganz zu Eigen gemacht. Der 2. Satz wurde sehr schön und getragen ausmusiziert und der 3. Satz sehr „flüssig“. Im 4. Satz vermisste man dann lediglich einen noch schöneren Ton der Violine.

 Ein Wiedersehen und Wiederhören mit Piemontesi und Mira Wang brachte das „Klavierquartett Nr. 3 c-Moll“ (op. 60) von Johannes Brahms. Während letztere mit sanftem Geigenton den Charakter dieser Musik traf, Yura Lee mit schönem, weichem Ton der Viola aufhorchen ließ und Poltéra anstelle von Jan Vogler mit seinem Violoncello einstimmte, griff Piemontesi zu Beginn gewaltig in die Tasten als wollte er einen großen Konzertsaal anstelle des kleineren intimeren Raumes füllen, so dass der Fußboden vibrierte, passte sich dann aber dem echt kammermusikalischen Spiel der drei anderen Mitstreiter an. Überschwang und Vehemenz am Anfang wichen einem ausgeglichenen Spiel mit sanften, klangvollen und auch beim Pianisten stellenweise gut empfundenen und wiedergegebenen Passagen bis zum feinen Ausklang des 2. Satzes, wie man es bei Brahms kennt. Der 3. Satz wurde der Brahms’schen Mentalität weitgehend gerecht, ganz konform, ganz unisono musiziert, bis der typisch jugendliche Überschwang wieder Raum griff. Es wurde sehr herzhaft gespielt, aber immer mit der besonderen Konformität, die bei allen Konzerten immer wieder auffiel. Es war eine grandiose, wenn auch nicht unbedingt werkgerechte Wiedergabe. Die überlegene Reife und geistige Durchdringung dürfte sich aber bei den jungen Musikern mit der Zeit noch einstellen. Es ist logisch und richtig, dass junge Musiker erst einmal auf die technische Perfektion orientieren.

 Zwischen den beiden Klassikern kam der Composer in residence“ Mathias Pintscher zu Wort bzw. Gehör. So monströs wie die Geweihe, denen der Monströsensaal seinen Namen verdankt, schienen auch die ungewöhnlichen, einzelnen und sparsam in den Raum gestreuten Töne und leisen Glissandi in seiner „Study IV for Treatise on the Veil für Streichquartett“ (2009), die erstaunlicherweise in normaler Notenschrift mit echten Noten auf Notenlinien und sehr langen Zwischenzeiten (Linien) notiert waren. Wie einzelne Geräusche in nächtlicher Stille erschienen die Töne wie aus dem Nichts und assoziierten eine große innere Stille, wenn nicht Einsamkeit, mit erstaunlicher Hingabe von Mira Wang, Violine erzeugt, die sich den besonders leisen, sehr einsamen Tönen und Geräuschen mit sehr viel Hingabe bis zum „Auskosten“ widmete, sowie Karen Gomyo´, ebenfalls Violine, Yura Lee, die hier die Viola spielte und Christian Poltéra, Violoncello, alles sehr langsam und leise, was bei diesem nicht gerade kurzen Stück bestimmt keine leichte Aufgabe war, um diese Art der Tonerzeugung fernab der instrumententypischen Töne konsequent durch das gesamte Stück kontinuierlich durchzuführen, aber es geschah mit ungeheurer Akribie und Hingabe und in großer Klarheit, weshalb die Zuhörer in absoluter Stille verharrten und lauschten.

 Man könnte es als die „Kunst der leisen, einsamen, schrägen und seltenen Töne“ bezeichnen, weg von aller Harmonie und Tonreinheit, nur keine „normalen“, tonalen Töne! Das erfordert außergewöhnliches Können von den Ausführenden nicht nur beim vorsichtigen Ansetzen der ungewöhnlichen „Ton-Geräusche“ und langen Aushalten dieser Töne. Es wurde auch gezupft, und ab und an kamen leise ebenfalls sehr „schräge“ Glissandi.

 Es scheint Pintschers Personalstil zu sein, denn ähnliche Linien und Strukturen und viele Distanzen dazwischen den einzelnen, „beachtlich schrägen“ Tönen und Akkorden wies auch seine Komposition “Uriel für Violoncello und Klavier“ (2012) auf, die im KONZERT des darauffolgenden Tag (26.8.) im gleichen Saal im Mittelpunkt stand und von Anssi Karttunen, Violoncello und Oliver Triendl, Klavier, zwei Meistern ihres Fachs, in hervorragender Qualität aufgeführt wurde. Nach anfänglichem Cello-Solo und Kantilenen auf sehr eigene Art wurden die Zuhörenden mit einem plötzlichen „vermischt disharmonischen“ Akkord auf dem Klavier geschockt. Haydn war dagegen ein „Waisenknabe“ mit seiner „Symphonie mit dem Paukenschlag“. Sein Paukenschlag kommt nur plötzlich, hier war auch noch der Klavier-Akkord so schmerzlich wie nur irgend möglich.

 Die technischen Möglichkeiten des Cellos wurden voll ausgereizt und das Klavier bis an seine Grenzen und darüber hinaus beansprucht. Trotzdem war beim Cello auch ein sehr schöner, warmer Klang bei den großartigen Fähigkeiten und technischen Fertigkeiten der beiden Interpreten hörbar, auch wenn gelegentlich auf Holz, d. h. den Korpus des Cellos geklopft werden musste, der Pianist gelegentlich auch mal in die Saiten – des Flügels griff, und verzwickte, ausgefallene Glissandi den Charakter des Stückes prägten. Den beiden Interpreten gelang es, in vielen Facetten auch bei diesen ungewohnten Klängen mit großer Intensität Emotionen auszuloten.

 Man dächte, die wilden Jahre der “künstlichen“ Klänge seien vorbei, aber bei Pintscher leben sie noch. Er erzeugt Spannungen, schafft Bezüge zwischen den ungewohnten Klängen seiner sehr eigenwilligen „Tonalität“. Seine Musik ist monströs wie die abnormen Hirschgeweihe an den Wänden des Saales. In der Barockzeit galten solche Missbildungen als Gegensatz zum Normalen, Alltäglichen als Raritäten, etwas besonders Wertvolles und Einmaliges, und wurden deshalb vergoldet.

 Die vorgesehene Uraufführung „Now II“ für Violoncello solo von Pintscher musste infolge der plötzlichen Erkrankung Jan Voglers, der es sich nicht nehmen ließ, das Werk selbst aus der Taufe zu heben, auf das Abschlusskonzert (30.8.) verlegt werden.

 „Umrahmt“ wurde Pintschers Komposition vom „Klavierquartett B-Dur“ (op. 41) von Camille Saint-Saëns mit Lise de la Salle am Klavier, Karen Gomyo, Violine, Kyle Armbrust, Viola und Johannes Moser, Violoncello, und dem „Streichquintett Es-Dur“ (op. 97) von Antonin Dvořák mit Yura Lee, Violine, Kai Vogler, Violine, Adrien La Marca und Kyle Armbrust, Viola und Christian Poltéra, Violoncello.

 Im Gegensatz zu ihren Klavier-„Kollegen“ in vorangegangenen Konzerten fiel Lise della Salle durch ihr feinsinniges, klangvolles Klavierspiel auf, das bei ihrer zurückgenommenen Lautstärke nicht weniger gut zu hören war. Sie beherrscht die Kunst der wohlklingenden, leisen Töne, die weder durch zu viel Temperament noch durch überhöhte Lautstärke zu ersetzen ist, und gab damit dem in gutem Zusammenspiel und mit viel Leidenschaft interpretierten Klavierquartett eine sehr gute Basis. Das Klavier war nie vordergründig, bis auf eine solistische Passage, bei der ihr großartiges Können und ihr klangvoller Anschlag zum Hörgenuss wurden. Sie konnte die Tasten auch sehr energisch anschlagen, aber immer mit schönem Ton. Sie hatte stets das richtige Gespür für den Zusammenklang mit den übrigen Instrumenten, bei denen zwar die Viola mitunter einen etwas spröden Klang hören ließ, aber besonders von der 1. Violine viel Wert auf einen schönen, singenden Ton gelegt wurde. Alle vier Quartettpartner setzten ihre perfekte Technik und gutes Zusammenspiel für ein sehr „flüssiges“ Spiel und eine gut durchdachte Interpretation ein.

 Dvořáks Streichquintett war sehr gut besetzt. Yura Lee spielt gleich gut Violine und Viola, wovon man sich in verschiedenen Konzerten während des Festavals, wo sie das eine oder andere Instrument perfekt spielte, überzeugen konnte. Sie hatte die 1. Geige übernommen. Der hier 2. Geiger Kai Vogler, 1. Konzertmeister der Sächsischen Staatskapelle Dresden, was für sich spricht, bereicherte das Quintett mit seiner schönen Tongebung und sensiblen Spielweise. Als erfahrener Musiker war er hier die Stütze des Quintetts. Adrien La Marca und Kyle Armbrust als sehr gute Bratschisten und Christian Poltéra, wie in vorangegangenen Konzerten zu erkennen war, ein sehr guter Cellist, ergänzten die Quintett-Besetzung.

 Bei dem heiter und beschwingt begonnenen, in ausgelassenen Passagen und Tanzrhythmen sehr schön und lyrisch und mit guter Phrasierung gespielten, Quartett stand doch letzten Endes – wie bei fast allen Konzerten – perfekte Technik, ausgezeichnetes Zusammenspiel und ein scheinbar ungebändigtes Temperament im Vordergrund, das die ruhigere böhmische Mentalität weniger beachterte.

 Seit vergangenem Jahr ist auch die aus dem 13. Jh. stammende Dorfkirche und einstige Wallfahrtskirche von Steinbach bei Moritzburg, eine der ältesten Dorfkirchen Deutschlands mit einem an die Kassettendecke gemalten „himmlischen Kräutergärtlein“ in das Festival mit einbezogen. Dort können sich einige Festival-Künstler solistisch präsentieren. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr, wo unter dem Thema „Der private Bach“ Solosonaten und Partiten des Meisters im Fokus standen, wurde jetzt unter der Bezeichnung MOSTLY BACH (28.8.) der Rahmen weiter gefasst. Neben den beiden Sonaten für Violoncello solo Nr. 1 g-Moll und Nr. 3 a-Moll von J. S. Bach, die den Abend umrahmten, kamen auch kammermusikalische Werke anderer Komponisten, in denen sich Bachs Schaffen wiederspiegelt, zur Aufführung. Jan Vogler arbeitete nicht nur die hochentwickelte Mehrstimmigkeit der Bach-Sonaten, die dem Cellisten alles abverlangt, heraus, sondern ließ das Instrument zudem in schöner Farbigkeit und Melodik „singen“. Gekonnt, klangschön und fließend, als wären die Schwierigkeiten Nebensache, ließ er den unterschiedlichen Charakter der einzelnen Sätze sich entfalten.

 Anstelle des vorgesehenen „Janusgesichts“ von Matthias Pintscher stellte sich der norwegische Spitzengeiger Henning Kraggerud zunächst mit einem „Volkslied“ als Reminiszenz an seinen Landsmann, den Geiger und Komponisten Ole Bull (1810-1880) vor. Mit der “2., Jacques Thibaud gewidmeten, Sonate für Violine solo“ von Eugèn Ysaÿes und dem originalen Bach, der in Ysaÿes Sonate zitiert wird, sowie einem eigenen „Postludium“, aus seinen „24. Postludien für Orchester“, ein schönes, klangvolles Stück mit lieblichen Tönen in einem eigens „vor Ort“ dafür angefertigten Arrangement für Violine stellte er einen unmittelbaren Bezug zu Bach her. Mit wunderbarem Ton, musikalischer Akribie und Feingefühl zwischen Ernsthaftigkeit und Heiterkeit, eindringlich flehenden, packenden Tönen, sehr feiner geschmeidiger differenzierter Tongebung, gekonnt gleitenden Doppelgriffen und spielerischer Leichtigkeit brachte er alle drei Teile brillant, virtuos und mit viel Feingefühl zu Gehör.

 Ganz anders war der Stil der auf Violine und Viola gleichermaßen virtuosen Yura Lee, die J. S. Bachs „g-Moll-Sonate“ mit üppigem Überschwang vor allem in der Fuge, ziemlich eigenwillig interpretierte, was aber beim Publikum gut „ankam“.

 Ingrid Gerk

 

 

 

 

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