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Dresden / Kulturpalast, Frauenkirche, Marienkirche Pirna u. a.: STREIFLICHTER VOM LETZTEN TEIL DER 47. DRESDNER MUSIKFESTSPIELE – TEL IV – 4. ‑ 9.6.2024
Auch im letzten Teil der 47. Dresdner Musikfestspiele öffneten sich die Horizonte, gab es zahlreiche Highlights und Überraschungen. Eine besondere Überraschung brachte das Konzert mit „JAN VOGLER UND PHILHARMONIA ORCHESTRA“ (4.6.) im Kulturpalast. Unter der Leitung seines charismatischen finnischen Chefdirigenten Santtu-Matias Rouvali eröffnete das Londoner Philharmonia Orchestra den Konzertabend zunächst mit der „Ungarischen Rhapsodie d‑Moll“ (S 359/2) von Franz Liszt in einer von ihm selbst revidierten Bearbeitung für Orchester seines Freundes, des Flötisten, Dirigenten und Komponisten Franz Doppler.
Sie begann nicht gleich mit ungarischem Temperament, sondern eher getragen, leicht melancholisch, fast ein bisschen geheimnisvoll, vor allem aber transparent, mit schönem Klarinettensolo, zu dem das Orchester schwieg und anderen Raffinessen. Relativ langsam wurde die Musik ausgekostet, standen Schönheit und exotischer Reiz im Vordergrund. Doch dann kam schnellt auch „Paprika ins Blut“ und bestimmte den mitreißenden Fluss des Werkes bis zum triumphalen Schluss – eine sehr intensive, hörenswerte Interpretation, die auch die Feinheiten der Komposition deutlich werden ließ. Ganz gleich, in welcher Interpretation oder Bearbeitung, verfehlt die Rhapsodie ihre Wirkung nie.
Dann folgte die Überraschung, das Konzert für Violoncello und Orchester „Dance“ der englischen, in Amerika lebenden, Komponistin Anna Clyne, die jetzt für führende Orchester in aller Welt schreibt. Sie kommt ohne große Gesten aus, scheut sich nicht, auch Melodien als Ausdrucksmittel zu verwenden und betört durch deren suggestive Kraft. Für sie sind Melodien Träger der musikalischen Idee, der Schlüssel, um Emotionen und Stimmungen auszudrücken und eine direkte Verbindung zum Zuhörer aufzubauen. Ihre Kunst kommt aus dem Herzen, sie verleugnet die Gefühle nicht. Jeder der fünf Sätze ihres 2019 komponierten, ihrem Vater gewidmeten, Konzertes bezieht sich auf eine Verszeile des persischen Lyrikers Rumi aus dem 13. Jahrhundert.
Der erste Satz „Dance, when you’re broken open“ („Tanze, wenn du aufgebrochen bist“), der melodisch und in typischen Klangfarben die Fragilität des eigenen Seins beleuchtet, begann verhalten und verinnerlicht. Der zweite, kraftvollere Satz „ Dance, if you’ve torn the bandage off“ („Tanze, wenn du dich von deinen Fesseln befreit hast“), in dem mitunter auch mit etwas härteren Tönen die Musik in ihrer elementaren Kraft spürbar wird, endete abrupt. Im dritten Satz „Dance in the middle of the fighting“ („Tanze inmitten des Kampfes“) beleuchtet die Komponistin, einen Moment im Chaos, in dem die Zeit plötzlich stillsteht für einen Augenblick des Nachdenkens und des Innehaltens.
Der vierte Satz „Dance in your blood“ („Tanze in deinem Blut“), „majestätisch und ausschweifend“ überschrieben, ist von Lebhaftigkeit durchzogen, bei der alle Streichergruppen in Bewegung sind, und endet mit einem Wiegenlied. Der fünfte, zuerst komponierte Satz „Dance, when you’re perfectly free“ („Tanze, wenn du völlig frei bist“) ist voller sanglicher, schöner Melodien. Er endet nicht – wie üblich – mit Beifall heischender Bravour, sondern schlicht und filigran und mit ihm das Konzert, so als lösten sich die Töne im Nichts auf. Es geht aber nicht nur lieblich und „zuckersüß“ in diesem Cellokonzert zu. Es gibt auch energische Passagen, harte Schläge im Orchester und bei den Instrumenten eine Art Windmaschine und andere exotische Extras.
Dem Solo-Cello kommt eine übergeordnete Rolle zu. Im durchgängigen Melodienreichtum schaukelt es sich zum Singen auf und schwebt schon im ersten Satz wie eine Wolke über dem Orchester. Festivalintendant Jan Vogler, der trotz allem immer wieder Zeit und Kraft für Solo-Auftritte findet, war der geeignete Interpret. Mit seinem Stradivari-Cello „Castelbarco/Fau“ von 1707 fällt ihm das Singen auf seinem Instrument nicht schwer. Er „schwebte“ mit seinem Cello über den gestapelten Quinten des Orchesters, unterstrich mit kraftvollen Doppelgriffen, von Unisono-Passagen im Orchester begleitet, den Charakter des zweiten Satzes, ließ nicht nur die mit barock anmutenden Verzierungen versehene Melodie im dritten Satz in voller Schönheit erklingen, bewältigte mühelos die schnellen Passagen und griff die singenden Linien über Schlägen im Orchester (5. Satz) auf.
Es gibt sie also doch noch oder wieder, ansprechende moderne Musik, die eigenwillige Melodien als Ausdrucksmittel verwendet, ohne antiquiert zu erscheinen. Anna Clynes seelenvolles Konzert ist geeignet, viele Schichten von Hörern zu erreichen. Beim letzten Satz orientierte sie sich an dem lyrischen „Cellokonzert“ von Edward Elgar, zu dem es noch mehr Parallelen und Gemeinsamkeiten gibt. Seine „Enigma-Variationen“ (op. 36) erklangen im Anschluss und zeugten von einer guten Programmgestaltung.
Neben vollem Orchesterklang, laut und bisweilen tosend, betonte Rouvali auch die melodiöse Seite, die feinsinnigen, leisen Passagen, ließ das markante „Nimrod“-Thema, das sich wie eine „Erkennungs-Melodie“ durch die 14 Variationen zieht, immer wieder durchschimmern, umschloss das gesamte Werk wie mit einer großen Klammer, innerhalb der jede Variation als Charakterstück für einen Verwandten oder Bekannten Elgars, angefangen von seiner Frau, bis zu seinem Verleger als „Nimrod“ und gipfelnd in einem Selbstporträt, mit ihrem Rätsel eine spezielle Bedeutung hat. Es wurden ganze Bücher voll geschrieben, um die Rätsel zu lösen. Wirklich gelungen ist es niemand und vielleicht auch gar nicht wichtig. Man muss die Leute nicht kennen, um die Musik zu genießen, die in dieser kontrastreichen, sehr transparenten Interpretation mit triumphierendem Abschluss auch die Feinheiten und internen Zusammenhänge dieser Musik erkennen ließ.
Das „DRESDNER FESTSPIELORCHESTER UND MARC MINKOWSKI“ (5.6.) widmeten sich in der Reihe „Originalklang“ zwei komponierenden Antipoden des 19. Jahrhunderts, Richard Wagner und Jacques Offenbach, die sich zu Lebzeiten unversöhnlich gegenüberstanden. Marc Minkowski, der bereits als Neunzehnjähriger das auf Alte Musik spezialisierte Ensemble Les Musiciens du Louvre gründete, gilt als Pionier für historische Aufführungspraxis. Nach seiner kurzen Begrüßung und „Programmvorstellung“ in deutsch-englisch-deutschem Sprachmix klang Offenbachs Ohrwurm, die „Barcarole“ rein instrumental an, aber nein, es war die „Ouvertüre“ zu seiner, 1864 an der Wiener Hofoper uraufgeführten, großen romantischen Oper „Die Rheinnixen“ („Les fées du Rhin“), die wohl kaum jemand mehr kennt, aber die auszugsweise erklingende Musik, „Ballet et Grande Valse“ und „Introduction – Complainte d’Hedwig“ („Klage der Hedwig“) konnte sich, vom Dresdner Festspielorchester unter Minkowskis schwungvoller, inspirierender Leitung gespielt, hören lassen.
Als Hedwig tauchte die junge norwegische Mezzosopranistin Astrid Nordstad, die seit dem Gewinn des „Tom Wilhelmsen Opera Prize“ 2022 die europäischen Opern- und Konzertbühnen erobert, seitlich hinter dem Orchester auf und gab mit ihrem sehr kultivierten Gesang, ihrem geschmeidigen, warmen, wohlklingenden Mezzosopran mit sicherer Höhe, feinem Piano und dramatischen Höhepunkten der weiblichen Hauptfigur Gestalt. War es zunächst Offenbach von der feineren Seite, weniger derb und ausgelassen, so ließ sich sein typisches Temperament doch nicht länger zurückhalten, die Stimmung kletterte auf den Höhepunkt, und man hörte fast „die Grisetten trippeln“.
Zu Lebzeiten unversöhnlich, waren Offenbach und Wagner im Konzertprogramm vereint. Astrid Nordstad, die bereits auf den Opernbühnen Erfolge feiert, hatte für ihren ersten öffentlichen Konzertauftritt die „Wesendonck-Lieder“ (WWV 91) gewählt, die sie mit ihren sängerischen Tugenden überzeugend interpretierte und leise gedankenvoll ausklingen ließ, im Gesamteindruck vielleicht etwas verhaltener als gewohnt, aber es sind letztendlich „Liebeslieder“ von Wagners Seite aus, und da kann es auch ein wenig individueller sein. Das Orchester begleitete sehr feinsinnig, so dass auch die leicht melancholische Seite etwas deutlicher hervortrat.
Über historisch orientierte Aufführungspraxis bei Kompositionen der Romantik kann man geteilter Meinung sein. Hier war ihr Einsatz wirkungsvoll. Durch Minkowskis Erfahrungen und sein musikalisches Gespür wurden neue Sichtweisen und Denkansätze möglich.
Bei Felix Mendelssohn Bartholdy, einem weiteren Konkurrent Wagners, dessen Kompositionsstil auch an Klassik (Mozart) und Barock (Bach) orientiert ist und der als Mitbegründer der historischen Musikpflege gilt, gibt es keine Diskrepanzen mit dem „Originalklang“ aus der Sicht unserer Zeit. Seine „Sinfonie Nr. 3 a‑Moll (op. 56), die „Schottische“ gewann noch mehr an Transparenz. Minkowski ließ die düsteren Seiten der musikalischen Schilderung schottischer Landschaften und ihrer historischen Plätze, die Mendelssohn auf seiner Schottlandreise besucht hatte, in ihrer Feingliedrigkeit mit sehr feinen, zarten Klängen, aber auch dramatischen Elementen in einer großen Steigerung plastisch erstehen. Eine Generalpause gegen Ende erhöhe die Spannung. Den guten Gesamteindruck konnten auch gelegentliche kleine klangliche Ungenauigkeiten nicht trüben. Sie bleiben bei alten Instrumenten nicht aus, zu empfindlich sind sie gegen Temperaturschwankungen und andere äußere Einflüsse. Davor sind auch Meister ihres Instrumentes nicht gefeit.
Ein unerwarteter Clou kam noch zum Schluss. Minkowski bedankte sich nicht nur mit dem Orchester für den begeisterten Applaus, sondern ließ auch noch einmal die Sängerin vom Publikum für einen gemeinsamen Ausschnitt aus Offenbachs Operette „Die Großherzogin von Gerolstein“, eine Satire auf Günstlingswesen und militärisches Brimborium herausklatschen, bei der Astrid Nordstad mit Witz und Heiterkeit und perfekter Artikulation der französischen Sprache brillierte. Offenbach liegt ihr offenbar ganz besonders. Hier war sie in ihrem Element und „ging aus sich heraus“. Mit Offenbach schloss sich der Kreis, der mit Offenbach begonnen hatte und hinterließ mit seiner geschickten Programmgestaltung und guten Interpretation einen „abgerundeten“ Eindruck.
Noch einmal „Originalklang“, da wo alles begann, bei der Barockmusik, und damit zur „MESSE IN H-MOLL“ VON JOHANN SEBASTIAN BACH MIT DEM COLLEGIUM VOCALE GENT (7.6.) in der Frauenkirche, einem kongenialen Aufführungsort, wo Johann Sebastian Bach selbst die damalige Silbermann-Orgel gespielt hat. Der absolut authentische Ort für sein letztes großes Vokalwerk wäre die nur wenige 100 Meter entfernte Katholische Hofkirche (jetzt Kathedrale) gewesen, in der die für den Dresdner Hof bestimmte Messe vermutlich (zumindest in Teilen) (ur)aufgeführt wurde, aber die Frauenkirche ist aufführungstechnisch günstiger. Beide sind Barockkirchen, die zu Bachs Lebzeiten entstanden.
Die (große) „h‑Moll-Messe“ (BWV 232) – es gibt auch noch eine kleine – gehört zu den bedeutendsten geistlichen Kompositionen überhaupt. Die Partitur gehört zum Unesco-Weltdokumentenerbe. Ihr heute gebräuchliche Name geht auf den Leiter der Berliner Singakademie, Carl Friedrich Zelter zurück, der ab 1811 Teile der Messe mit der Berliner Singakademie einstudierte und mit Felix Mendelssohn-Bartholdy zum Wegbereiter der Bach-Renaissance wurde. Er pries sie als „das größte Kunstwerk, das die Welt je gesehen hat“, und Franz Liszt urteilte: Sie „ist der Mont-Blanc der Kirchenmusik – höher kann man in der abendländischen Musik nicht hinaus“.
Entstehungsgeschichtlich gehört sie in die Zeit des Barock, aber Bach war seiner Zeit geistig weit voraus, so dass hier eine Orientierung auf Originalklang nicht unbedingt die bessere Variante sein muss. Eine Interpretation aus moderner Sicht kann die gleiche oder sogar noch größere Wirkung hervorbringen, wie es in der Vergangenheit schon oft vorgekommen ist. Entscheidend ist nicht „womit“, sondern „wie“.
Philippe Herreweghe beherrscht beides und setzte es mit dem, 1970 von ihm gegründeten, Collegium Vocale Gent, mit dem er als einem der ersten Chöre die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis bei Werken von J. S. Bach, Heinrich Schütz und der mitteldeutschen Barockmusik umsetzte (inzwischen auch der Romantik), und dem, 1989 gegründeten Orchester des Collegium Vocale Gent, das sich je nach Bedarf aus erstklassigen internationalen Barockinterpreten zusammensetzt, überzeugend um.
Unter seiner Leitung entstand eine in sich geschlossene Einheit von Chor, Orchester und Solisten in relativ kleiner Besetzung, die sich für die besondere Akustik der Frauenkirche als besonders günstig erwies. Trotz ungewöhnlicher Proportionen verfügte der zuverlässig und klangschön singende Chor aus 20 „Mitgliedern“, zu denen auch die Solisten gehörten, mit acht Sopranen, drei Altstimmen (eine Altistin und zwei Countertenöre) und sieben Herren für ein ausgewogenes klangliches Gleichgewicht. Entsprechend historischer Aufführungspraxis wurden einzelne Bass-Soli auch von Sängern aus dem Chor übernommen. Die Solistinnen und Solisten traten hier nicht exponiert auf, sondern stellten sich ganz in den Dienst der Sache, traten für ihre solistischen Auftritte aus dem Chor heraus und fügten lückenlos in das Gesamtgefüge wieder ein.
Die Stimmen der beiden sehr unterschiedlichen, aber mit historischer Aufführungspraxis bestens vertrauten, Sopran-Solistinnen Dorothee Mields mit ihrer geschmeidigen, vor allem in der Mittellage samten klingenden Naturstimme und Hana Blažíková harmonierten sehr gut im Duett des „Kyrie“. Sie sangen mit Innigkeit und Hingabe, wirkten jedoch zu Beginn noch etwas zurückhaltend im großen Kirchenraum.
Der britische Countertenor Alex Potter beherrschte die Altpartie mit für sein Stimmfach außergewöhnlich kräftiger, mühelos strömender Stimme perfekt. Mit langem Atem und großer Ausdrucksfähigkeit verlieh er dem „Qui sedes“ und vor allem der innigen Bitte des den Gesamteindruck am Ende der Messe maßgeblich mitbestimmenden „Agnus deí“, innig begleitet von den ersten Violinen und Violoncellos, zu Herzen gehende Strahlkraft.
Der deutsche Bass Johannes Kammler beeindruckte mit der von ihm ausdrucksvoll gesungenen Bass-Partie, der auch er Strahlkraft zu verleihen vermochte. Der britische Tenor Guy Cutting verlieh der Tenor-Partie Nachdruck, insbesondere im Duett mit Dorothee Mields, bei dem sich die Traversflöte homogen wie eine dritte Gesangsstimme einbrachte, sowie mit der Arie im „Benedikts, die von Flöte, Cello und Orgel sehr innig eingeleitet und begleitet wurde.
Der Chor sang sehr zuverlässig und konnte auch die kraftvollen Passagen wie das alles überstrahlender „Sanctus“, wie es in keiner anderen Messe der musikalischen Weltliteratur vorkommt, überzeugend gestalten und auch die Transparenz der Polyphonie erhalten.
Das Orchester bildete mit seinem durchgängig geschmeidigen, facettenreichen, makellosen Klang das kontinuierliche Fundament. Die Instrumentalsolisten und insbesondere die Bläser, vermochten sich ganz auf Solisten und Chor einzustellen, „umspielten“ die Arien mit lieblichen Klängen und ergänzten die menschlichen Stimmen wie gleichberechtigte Partner.
Es war eine feinsinnige, fast „kammermusikalische“ Aufführung mit zuweilen schmeichelhaften Klängen und schöner Transparenz, bei der die musikalischen Linien in einer ausgewogenen Einheit von Chor, Orchester und Solisten deutlich nachvollziehbar ineinanderflossen. Herreweghe baute die Messe sukzessive auf, bis die Musik im „Kruzifixus“ des „Symbolum nicenum“ langsam, fast unhörbar verhaucht und dann mit unbeschreiblichem Jubel im „Er resurrexit“ wieder einsetzte, worauf nacheinander ein wunderbarer Teil auf den anderen folgte bis zu der inständigen Bitte um inneren und äußeren Frieden im „Don nobis pacem“.
Eine Pause nach 60 Minuten Aufführungsdauer, nach „Kyrie“ und „Gloria“, entsprach auch der Entsehungsgeschichte der Messe. Bach komponierte 1733 zunächst eine „Missa“ aus „Kyrie“ und „Gloria“ („Missa brevis“) und stellte gegen Ende seines Lebens eine umfangreiche Messe (Missa solemnis“) mit weiteren Sätzen aus Bearbeitungen früherer Kantaten (Parodieverfahren) und neuen Kompositionen zusammen, wobei ein überwältigendes Werk entstand, das immer noch und immer wieder tief beeindruckt, gleich, in welcher Interpretation. Vielleicht sollte man die Messe in möglichst vielen unterschiedlichen Lesarten hören, um sich ein umfassendes Bild zu machen.
In der imposanten, Anfang des 16. Jahrhunderts errichteten, Marienkirche, einer großen spätgotischen Hallenkirche, in der ca. 26 km südöstlich von Dresden gelegenen Stadt Pirna, dem „Tor zur Sächsischen Schweiz“, trafen sich „MARTYNAS LEVICKI & IVETA APKALNA“ zu einem gemeinsamen Konzert mit Akkordeon und Orgel, zwei außergewöhnliche Künstler an ihren miteinander verwandten und doch so unterschiedlichen Instrumenten, beide zugleich Tasten- und Blasinstrumente und über einen Balg mit Wind versorgt und doch sehr unterschiedlich in Größenverhältnis und Klang sowie den Möglichkeiten ihrer klanglichen Facetten.
Hier waren sie in Harmonie vereint, was dem Einfühlungsvermögen der beiden außergewöhnlichen Künstler zu verdanken war, der aus Lettland stammenden, weltweit zu den führenden Meisten ihres Faches gehörenden Organistin Iveta Apkalna, seit 2017 Titularorganistin der Klais-Orgel in der Hamburger Elbphilharmonie, und dem litauischen Akkordeonisten Martynas Levickis, dem mit seinem Instrument bereits mit Anfang zwanzig der Sprung auf die internationalen Bühnen gelang.
Erschien es zunächst nicht unproblematisch, die sanften Streicherklänge in zwei (Violin-)Konzerten aus „Le quattro stagioni” (“Vier Jahreszeiten”) von Antonio Vivaldi, die jeweils eine Jahreszeit charakterisieren, auf die ganz andere Klangwirkung der Orgel zu übertragen, konnte man sich doch auf J. S. Bach besinnen, der auch Violinkonzerte Vivaldis für Orgel bearbeitet hat. Beim „Winter“ („L‘invento“) (op 8 Nr. 4, RV 297) blieb die frostige Grundstimmung erhalten, und im, das Programm abschließenden „Sommer“ („ L’estate“) (op. 8 Nr. 2, RV 315) wurde die flirrende Hitze assoziiert. Besonders angetan hatte es dem Publikum das entfesselt tobende Gewitter, das es dann für seinen enthusiastischen Beifall noch einmal erleben konnte.
Dazwischen, erklangen, eingebettet in die beiden Konzerte, in ungewöhnlichen Bearbeitungen für Akkordeon und Orgel, die 1895 von Léon Boëllmann komponierte „Suite Gothique“, eines der bekanntesten Orgelwerke der französischen Romantik, und die ruhig dahinfließende Minimal Music „Mad Rush“ von Philip Glass mit ihren langwährenden, sich nur geringfügig in verändernden Klangflächen entfaltenden Tonrepetitionen, die beide eine ganz besondere Klangwelt entstehen ließen, zu der auch eine mitreißende Eigenkomposition Levickis passte.
Um die beiden, auf der Orgelempore agierenden Ausnahmeinterpreten in ihrer sichtbaren Spielfreude, die behände und ausgelassen, mitunter tänzelnd über Manuale und Pedal gleitenden Hände und Füße von Iveta Apkalna und die Tastenvirtuosität Levisckis auch optisch erlebbar zu machen, wurde das Geschehen auf der Orgelempore per Riesen-Video-Leinwand auf den Altarplatz übertragen.
Zu einem letzten Höhepunkt der 47. Dresdner Musikfestspiele wurde das „ABSCHLUSSKONZERT MIT DER TSCHECHISCHEN PHILHARMONIE & JAKUB HRŮŠA“ (9.6.) im Kulturpalast. Da wo die vielschichtigen „HORIONTE“ mit Richard Wagner („Walküre“ konzertant) begannen, wurden sie mit Bedřich Smetana beendet. Anlässlich seines 200. Geburtstages (2.3.1824) präsentierte die Tschechische Philharmnie unter ihrem sympathischen Ehrendirigenten Jakub Hrůša, der auch in Dresden schon öfters begeisterte, einen repräsentativen Querschnitt durch Smetanas vielseitiges Schaffen, bekannte und unbekannte Werke, Opern, Konzertantes und Kammermusik, wobei sich der neue Konzertsaal im Kulturpalast sowohl für große Orchesterbesetzung als auch für Kammermusik bestens geeignet erwies.
Die musikalische Reise begann schwungvoll mit der „Ouvertüre“ zu Smetanas bekanntester Oper „Die verkaufte Braut“ mit ihren traumhaften Melodien, die von Hrůša durchdacht und deutlich in ihrer Struktur temperamentvoll und kontrastreich zwischen kräftigen, bodenständigen Passagen und leichtem Gesäusel dargeboten wurde. Es folgten zwei Frühwerke, die bereits die Genialität des Meisters verraten, die vierminütige „Jiřinková Polka“ („Georginen-Polka“) volkstümlich, nett, „getupft“ und tänzerisch verspielt, und die temperamentvolle neunminütige „Velká předehra D-Dur“ („Grand Ouvertüre“ / „Jubel-Ouvertüre“) mit einem wirbelnden Paukensolo und wetteifernden Holzbläsern und Streichern.
Dann zog sich der Dirigent zurück, um zwei Damen und zwei Herren des Orchesters „das Feld“ für den ersten Satz „Allegro vivo appasionato“ aus Smetanas Streichquartett Nr. 1 e‑Moll „Aus meinem Leben“ („Z mého zivota“) zu überlassen, eine Reminiszenz an sein Leben, das er, gesundheitlich angeschlagen, reminiszierend in Töne fasste. Nach einem ausgiebigen, sehr gut gespielten Bratschensolo entfalteten sich nach und nach wunderbare Melodiebögen, die Smetanas Neigung zur Kunst und unbändige Sehnsucht in seiner Jugend ausdrücken, unterschwellig jedoch schon getrübt durch die bevorstehende Taubheit.
Das Genre „Sinfonische Dichtung“ nach Liszts Vorbild beschäftigte Smetana zeitlebens. Beispielgebend dafür erklang Hakon Jarl“, die Geschichte eines Helden, der im 10. Jahrhundert Norwegen regierte. Während seines Schweden-Aufenthaltes hatte sich Smetana auch mit der Geschichte des Landes beschäftigt. In starken Kontrasten mit überlauter, harte Pauke und sanften Klängen der Harfe, dem für die tschechische Romantik typischen Instrument, entstand bildhaft das dramatische Geschehen.
Die Oper „Zwei Witwen“ („Dve vdovi“) nach einer französischen Komödie über zwei sehr unterschiedliche Frauengestalten, bei der musikalisch die Polka den Ton angibt, wurde in Dresden erfolgreich uraufgeführt, ist aber kaum noch bekannt, umso erfreulicher war es, die bodenständig-kraftvolle Ouvertüre zu hören.
Aus „Zwei Duette für Violine und Klavier“ erklang „Duett Nr. 2“ „Aus der Heimat“ in einer Bearbeitung für Violine und Orchester (Tomás Ille) mit Jan Mrácek, erster Konzertmeister des Orchesters, der mit im wahrsten Sinne des Wortes singender Geige der melodiösen Linienführung folgte, berührende Klänge, wie sie nur ein Musiker durch und durch zustande bringen kann, bis sie ausgelassen allmählich in tänzerische Rhythmen übergingen, wobei das Orchester stellenweise manch schöne „himmlische“ Töne des Solisten leider etwas zudeckte.
Nach dem Orchesterstück „Prager Karneval“ („Prazský karneval“), Smetanas letzter Komposition, bestehend aus Introduktion und Polonaise, erklang schließlich „Die Moldau“ („Vltava“), die nicht nur die böhmische Landschaft, sondern auch die Sinfonische Dichtung „Mein Vaterland“ (“Ma vlast“) durchzieht. Aus den beiden, von der Flöte munter säuselnd dargestellten Quellen wurde ein munteres Bächlein. Dunklere Töne mischten sich ein, ließen es zum Bach und schließlich zum Fluss anschwellen und in eindrucksvollen musikalischen Bildern die böhmische Landschaft mit mitreißenden Wellen durchziehen bis zur Mündung in die Elbe (Labe), wo es langsam leise verschwindet, und doch noch einen energischen sieghaften Schlusspunkt setzt. Die unwiderstehliche Melodie begleitete die Besucher nach Hause in Erinnerung an das Konzert und die Musikfestspiele und weckt die Neugier auf die 48. Dresdner Musikfestspiele, die in der Zeit vom 17.5 – 14.6.2025 stattfinden.
Ingrid Gerk