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DRESDEN / Gemäldegalerie Alte Meister : VERMEER

22.10.2021 | Ausstellungen, KRITIKEN

vermeers zeitgenossen genrebilder von pieter cornelisz van slingelandt, frans van mieris, gabriel metsu und jacob ochterveldt~1
Vermeers Zeitgenossen Genrebilder von Pieter Cornelisz van Slingelandt, Frans van Mieris, Gabriel Metsu und Jacob Ochterveldt

DRESDEN / Gemäldegalerie Alte Meister       
JOHANNES VERMEER.VOM INNEHALTEN
Vom 10. September 2021 bis 2. Jänner 2022

Ein Viertel Vermeer

Wenn man ein Viertel aller Rembrandtgemälde in einer einzigen Ausstellung versammeln wollte, müsste man fast 100 eigenhändige Werke präsentieren. Ein heute unrealistisches Unterfangen. Bei Vermeer ist das leichter. Da erreicht man die Quote schon mit zehn. Die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister in dem wunderbaren Semperbau unter Leitung des ehemaligen Kurators am Wiener Belvedere Stefan Koja hat neun eigenhändige Vermeers in einem klugen Konzept rund 50 Gemälden von Zeitgenossen gegenübergestellt. Die Schau „Vom Innehalten“ demonstriert ganz unaufdringlich, warum Vermeer unter diesen der Größte war.

Von Alexander Marinovic

Das Konzept folgt jenem klugen Prinzip, das Wiener Museumsfreunde aus vielen erfolgreichen Ausstellungen Kojas im Belvedere kennen: Nimm Hauptwerke aus deiner Sammlung, kontrastiere sie mit einer Fülle von passenden Pendants, vorwiegend – aber nicht nur – aus der eigenen Sammlung, und ergänze sie mit hochkarätigen Leihgaben aus internationalen Museen. Daraus erwächst im Idealfall nicht nur eine zugkräftige Ausstellung, sondern auch ein neuer Blick auf die Bestände der ständigen Sammlung. In Dresden tritt dieser Idealfall ein.

johannes vermeer das brieflesende mädchen am offenen fenster (um 1657), dresden, galerie alte meister xx~1

Ermöglicht wird er von einem sensationellen Restaurierungsergebnis. „Das brieflesende Mädchen am offenen Fenster“, eines von zwei Vermeer-Gemälden im Besitz der Dresdner Sammlung, wurde vier Jahre lang untersucht und restauriert – mit einem Resultat, das durch alle Medien ging. Nach der Firnisabnahme zeigte sich, dass eine Übermalung in der oberen Bildhälfte nicht von Vermeer stammen konnte. Nach Abnahme der Malschichte tauchte ein Bild im Bild auf, das Gemälde eines Liebesgottes mit Bogen und Maske, zurückgehend auf einen Kupferstich in einem damals verbreiteten Emblem-Buch. Die Aussage weist darauf hin, dass aufrichtige Liebe Betrug und Heuchelei überwindet; der Zusammenhang mit dem einen (Liebes-)Brief lesenden Mädchen liegt auf der Hand. Die Restaurierung hat zusätzlich noch die überwältigend strahlende Farbigkeit mit allen Details freigelegt.

Dieses Meisterwerk stammt von einem erst 25jährigen Maler. In der Ausstellung hängt es am Ende –  wie ein Ziel, auf das die gesamte Schau in ihrer durchdachten Konzeption zusteuert. Jedes der einzelnen Kapitel behandelt einen der Aspekte, die sich dann im Zusammenschluss aller in der „Briefleserin“ wiederfinden. Den Einstieg in die Präsentation bildet passenderweise der zweite Vermeer aus eigenem Bestand: „Bei der Kupplerin“ ist chronologisch gesehen das dritte erhaltene Gemälde des Delfter Meisters und durch eine relativ aktuelle Restaurierung ebenfalls in einem glänzenden Zustand.

Die thematischen Aspekte beginnen mit Spiegelungen – wie bei der „Briefleserin“ im geöffneten Fenster. Diese dienen der Erweiterung des Raumes, gleichzeitig weist der Spiegel auf Selbsterkenntnis, andererseits auch auf Eitelkeit hin. Gerard Terborch ist als Meister solcher Szenen hier besonders vertreten.

Ein weiteres beliebtes Motiv ist der Trompe-l’oeil-Effekt, hier in Form von Vorhängen oder Fensternischen, die scheinbar aus dem Bildraum in die Realität davor hinauswachsen – bei Vermeer wie bei den Leidener Feinmalern seiner Generation (Gerrit Dou, Gabriel Metsu, Frans van Mieris) gern gesehen, und bei der „Briefleserin“ im grünen Vorhang rechts ein dominierendes Bildelement. 

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Vermeer Junge Dame am Virginal (um 1670), London, National Gallery

Inhaltlich ist die Liebesthematik allgegenwärtig, häufig symbolisiert durch musizierende Paare („Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist…“) oder durch eine gemalte oder plastische Amorfigur im Hintergrund. Vermeer verwendet dieses Motiv in insgesamt vier Gemälden, zwei davon sind in Dresden zu sehen – neben der „Briefleserin“ auch die „Dame am Virginal“ aus London. Schließlich verweisen Briefszenen in der niederländischen Genremalerei nicht nur darauf, dass in der Seefahrer- und Handelsnation der Briefverkehr für die florierende Wirtschaft essenziell war, sie sind auch mit dem Thema Liebe eng konnotiert. Der Dresdner „Briefleserin“ gesellt sich ihre blau gewandete Schwester aus dem Rijksmuseum zur Seite.

Der abschließende Raum zelebriert den komplexen Restaurierungsvorgang und zeigt außerdem die Realien, die Vermeer in seiner unnachahmlichen, zarten Präsentation um die „Briefleserin“ drapiert hat, dreidimensional: einen farbenprächtigen türkischen Medaillon-Uschak (Teppich) von 1600, eine Obstschale aus chinesischem Kraak-Porzellan, eine zeitgenössische schwarzgelbe Miederjacke und einen spanischen Sessel.

Die in ihrer Größe überschaubare Ausstellung will, wie der Untertitel suggeriert, den Betrachter zum Innehalten auffordern und zur Aufmerksamkeit auf die scheinbar nebensächlichen Dinge des Lebens, die Vermeer mit der Zauberkraft seines Pinsels veredelt und sie damit in ihrer wahren Bedeutung in unser Bewusstsein hebt.

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Briefszenen von Gerard ter Borch (links und rechts) und Caspar Netscher

Nachtrag: Eine aktuelle Begegnung mit der behutsamen Neuhängung in der Gemäldegalerie Alte Meister bestätigt den exzellenten Eindruck der Vermeer-Schau. Hier liefern die Kunsthistoriker und nicht die Event-Manager die Vorgaben. Eine vergleichsweise dichte Hängung ermöglicht die Präsentation sehr vieler Werke, ohne überladen zu wirken, weil die inhaltlichen und kunstgeschichtlichen Zusammenhänge im Auge behalten sind.

Die verbreitete Ausdünnung (wie im Wiener Oberen Belvedere) vermeidet man, kluge Saaltexte erhellen das Verständnis und verdeutlichen die Absichten der Kuratoren. Die grassierende Marotte, moderne Werke in eine Sammlung Alter Meister einzuschmuggeln; vermeidet man, stattdessen sind den Gemälden gelegentlich Skulpturen zur Seite gestellt, die entweder aus derselben Epoche stammen oder als antike Werke den Maler zur Anregung dienten.

Fazit: So bedauerlich der Weggang des Wieners Koja nach Dresden für die Wiener Museenlandschaft war, so positiv hat er sich für Dresden ausgewirkt. Und vielleicht gibt es auch einmal eine Rückkehr…

 

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