Dresden / Frauenkirche, Kreuzkirche, Loschwitzer Kirche: „WIEDERENTDECKT: GOTTFRIED AUGUST HOMILIUS“ – 31.1. – 2.2.2014
Berühmt – hoch geschätzt – vergessen … und wiederentdeckt: Gottfried August Homilius (1724 ‑ 1785), ein Komponist, dessen Musik immer wieder unmittelbar anspricht. Anlässlich seines 300. Geburtstages am 2.2. fanden Aufführungen seiner Werke und eine Wissenschaftliche Konferenz in Dresden große Resonanz. Zu Lebzeiten und darüber hinaus bis an die Wende vom 19. zum 20. Jh. waren seine Werke sehr beliebt und weit verbreitet als Autographen und in zahlreichen Abschriften mit starken Änderungen für die jeweilige Aufführungspraxis, mit Kürzungen, Einschüben, Änderungen der Choräle und der Instrumentierung, bis sie ganz aus dem Musikleben verschwanden. Für die Musikwissenschaft waren nur noch die bedeutendsten Komponisten wie Bach, Haydn, Mozart, Beethoven usw. von Bedeutung. Die sogenannten „Kleinmeister“, deren Kompositionen durchaus sehr viel Einfallsreichtum und gute Kompositionstechnik verraten, gerieten völlig in Vergessenheit.
Jetzt ist das reiche Oeuvre von Homilius über ganz Europa (vor allem auch Nordeuropa) und die USA verstreut. In Avignon (Südfrankreich) soll es einen „Homilius-Chor“ mit 18 Sängern geben, der möglicherweise durch das noch vorhandene Notenmaterial „vor Ort“ auf den Komponisten aufmerksam wurde.
Seinerzeit war Homilius ein weltweit gefragter Komponist und soll zu Lebzeiten höher geschätzt worden sein als J. S. Bach, denn seine Werke sind gefällig, sehr abwechslungsreich und weniger schwierig aufzuführen. Sie treffen den Zeitgeschmack und verfehlen ihre Wirkung auch heutzutage nicht. Während J. S. Bachs Werke in früheren Jahrhunderten mehr zu Studienzwecken verbreitet wurden, waren die von Homilius für die Aufführungspraxis von Bedeutung. Stilistisch gehört er in die Epoche zwischen Barock und Klassik, zu deren Wegbereiter auch er gehört. Jetzt zeichnet sich eine Wiederbelebung am Horizont ab, speziell einige Ensembles für Alte Musik (auch in Amerika) nehmen einiges aus seinem reichen Oeuvre in ihre Programme auf. Der bisher bedeutendste Kreuzkantor, Rudolf Mauersberger, 1930-1971 Leiter des Dresdner Kreuzchores, dessen 125. Geburtstag am 29.2. d. J. mit vielen Chören in der Kreuzkirche gefeiert wurde, führte gelegentlich einige Motetten seines Amtsvorgängers a capella auf. Der Dresdner Kreuzchor wird nun immer, über das ganze Jahr verteilt, etwas von Homilius bringen.
Erheblichen Anteil an der Wiederentdeckung und intensiven Pflege der Musik dieses in seiner Art genialen Komponisten, vor allem seiner größeren Werke (Kantaten) hat Peter Kopp, Konzertdirigent und Stütze des Dresdner Kreuzchores, unermüdlicher Forscher in Sachen Dresdner Musiktradition und Leiter des 1983 von ihm gegründeten Vocal Concert Dresden, ein Kammerchor mit besonderer Faszination, der eine bemerkenswerte künstlerische Ausstrahlung erlangt hat. Mit ihm führt Kopp die von ihm wiederentdeckten Werke in so hoher Qualität auf und spielt viel beachtete CDs ein, dass auch schon mancher Wagner-Fan davon begeistert war. Er leitete mit steigendem Erfolg eine Renaissance und intensive Pflege der Werke ehemaliger Dresdner Musiker und Komponisten ein.
Unter dem Motto „Homilius & Co.“ (31.1. – Loschwitzer Kirche, dem „Gesellenstück“ von George Bähr vor dem Bau der Dresdner Frauenkirche) brachte er ein stilistisch vielfältiges, breit gefächertes Programm mit Motetten von Homilius „als Zentralgestirn“ und dessen Zeitgenossen zur Aufführung, Motetten mit genialen Einfällen und großer Vielfalt, bei der keine Ähnlichkeiten der Stücke untereinander vorkamen, Motetten von C. P. E. Bach (1714-1788), Nachfolger Telemanns in Hamburg und Kapellmeister Friedrichs II. in Berlin, J. L. Krebs (1713 -1780), dem berühmtesten Schüler J. S. Bachs, J. F. Doles (1715-1797), u. a. Thomaskantor, J. H. Rolle (1716-1785), Komponist „Musikalischer Dramen“ (Oratorien), R. T. Christlieb (1682-1755) und auch T. C. Reinhold (1682-1755), Homilius‘ Vorgänger als Kreuzkantor, dessen Kompositionen damals allerdings nicht sonderlich geschätzt waren. Alle diese kleineren Werke zeigten, wie unterschiedlich in dieser Epoche um neue Ausdrucksformen gerungen wurde und machten das Konzert spannend und abwechslungsreich.
Wer die Qualität dieses Chores und der begleitenden Instrumentalisten kennt, hier Bernhart Hentrich, Violoncello und Sebastian Knebel Orgel, mitunter aber auch ein Kammerorchester, das Instrumental Concert Dresden, kann „süchtig“ werden, weshalb sich eine sehr treue, ständig wachsende Fan- und Experten-Gemeinde gebildet hat, die möglichst kein Konzert versäumt.
Peter Kopp, dessen besonderes Verdienst es ist, die Kantaten für Soli, Chor und Orchester von Homilius wiederentdeckt zu haben und aufzuführen, leitete einen Tag später auch die Aufführung von 2 Kantaten und 1 Motette dieses Komponisten mit dem Dresdner Kreuzchor (1.2. – Kreuzkirche). Man war überrascht von der Klangfülle und dem vergessenen Wohlklang, der sehr klar, lebendig, frisch und dynamisch die Hörer erreichte. Besonders die Chöre beeindruckten in dieser Aufführung durch die intensive Vorbereitung und mitreißende Ausführung unter dem engagierten Dirigat.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde zu Homilius‘ Lebzeiten seine Musik nicht in annähernd solcher Qualität aufgeführt. Dazu waren nicht einmal die Möglichkeiten gegeben. Meist standen nur etwa 16 Sänger zur Verfügung (und evtl. noch einige zusätzliche, nicht zum Chor gehörende). Jetzt stand (fast) der gesamte, sehr gut vorbereitete Dresdner Kreuzchor und das hervorragende Philharmonische Kammerorchester Dresden (Leitung: Wolfgang Hentrich, 1. Konzertmeister der Dresdner Philharmonie) zur Verfügung.
Die längeren solistischen Gesangspassagen hatten Christina Elbe (Sopran), Albrecht Sack (Tenor) und Clemens Heidrich (Bass) übernommen, alle drei stilerfahren und mit den Besonderheiten von Barock und Klassik vertraut. Kreuzorganist Holger Gehring bereicherte die Aufführungen mit 3 Orgelwerken (2 Choralvorspielen, 1 Sonate) von Homilius. So interpretiert, spricht diese Musik unmittelbar an. Es ist vor allem sehr schöne Musik, stellenweise auch genial. Jedes Stück ist mit einer neuen musikalischen Idee erfüllt und erreicht den Hörer unmittelbar. Die Musik ist nicht unbedingt einfach aufzuführen. Sie ist anspruchsvoll, aber eingängig und sehr gefällig. Homilius hat sich offensichtlich an den Aufführungsmöglichkeiten und Hörgewohnheiten der damaligen Zeit orientiert, einfach für die Gemeinde in der Kirche und anspruchsvoll für die Musikerkollegen, die seine Partituren studierten. – Ein ähnliches Prinzip verfolgte auch Mozart in den ersten Jahren seines öffentlichen Auftretens in Wien (wie er an seinen Vater schrieb).
Auf den Tag genau, an dem Homilius vor 300 Jahren unweit von Dresden, in dem kleinen Ort Rosenthal in der Sächsischen Schweiz nahe der tschechischen Grenze, das Licht der Welt erblickte, brachte auch Frauenkirchenkantor Matthias Grünert 2 Kantaten von Homilius (2.2. – Frauenkirche) zur Aufführung. Es ist sein Verdient, die aufzuführenden Werke möglichst mit Bezug zum Aufführungsdatum auszuwählen, was durch diesen direkten Bezug beiträgt, die Musik den Besuchern noch näher zu bringen.
Der von Grünert sehr gut vorbereitete Kammerchor der Frauenkirche trat in relativ kleiner Besetzung zusammen mit dem ensemble frauenkirche aus 17 versierten Mitgliedern (vorwiegend) der Sächsischen Staatskapelle und der Dresdner Philharmonie auf, doch welch schöne Klangfülle! Der Vorteil dieser Musik besteht auch darin, dass mit relativ wenig personellem Aufwand und teilweise weniger Schwierigkeiten bei der Ausführung eine große Wirkung erreicht werden kann. Vermutlich war die Ausführung damals keinesfalls so perfekt wie heute, aber wahrscheinlich wurde mit sehr viel Herz gesungen.
Die beiden aufgeführten Kantaten schienen wie für die Akustik dieses Raumes geschaffen zu sein. Homilius kannte die akustischen Bedingungen sehr genau und berücksichtigte sie in seinen Kompositionen, war er doch der 1. Organist in der neu erbauten Frauenkirche, wurde 5 Jahre später Kreuzkantor und zog mit den Kruzianern nach der völligen Zerstörung der Kreuzkirche im Siebenjährigen Krieg durch Truppen Friedrich II. in die intakte Frauenkirche zurück, die wegen ihrer Sandsteinkuppel allen Angriffen trotzte. „Lass er den alten Dickkopf stehen“ hatte Friedrich II. schließlich gesagt. Einige Jahre zuvor hatte er in der Kreuzkirche selbst den Kreuzchor gehört.
Für die beiden Kantaten standen ebenfalls, mit dieser Aufführungspraxis vertraute, Solisten zur Verfügung. Susanna Martin (Sopran) verfügt über eine sichere Höhe und sang alle Verzierungen aus, wenn man sich auch für den großen Kirchenraum die Stimme noch ausgeglichener gewünscht hätte (was noch werden kann). Eric Stockloßa hat in letzter Zeit eine erstaunliche Entwicklung genommen. Er sang seinen Tenorpart sehr klar, mit guter Artikulation und ausgeglichener Stimme. Der Basspartie widmete sich der erfahrene Oratoriensänger Gotthold Schwarz.
Gegen die Klangfülle der Kantaten von Homilius wirkte selbst die „Sinfonie F‑Dur“ (Wq 183,3) seines gleichaltrigen Freundes Carl Philipp Emanuel Bach, der seinerzeit berühmter war als sein Vater Johann Sebastian, sehr viel sachlicher und beinahe „nüchtern“, obwohl sie vom ensemble frauenkirche sehr exakt und mit Engagement – am Cembalo Matthias Grünert – gespielt wurde.
Homilius‘ Lebensweg ging nicht über Sachsen hinaus, hatte aber seinerzeit europaweit große Bedeutung (auch Bach blieb mit Ausnahme seiner Reisen nach Norddeutschland und Berlin immer in Mitteldeutschland). Die Kindheit dieses genialen Mannes war schwer. Sein Vater, ein Pfarrer in Rosenthal (wo am 2.2.2014 auch ein Konzert mit Werken von Homilius stattfand) wurde bald in einen anderen Ort versetzt. Er starb, als der Junge 8 Jahre alt war. Die Mutter zog mit den Kindern nach Stolpen zu ihren Eltern, deren Haus bei einem Stadtbrand niederbrannte. Erst bei seinem Jurastudium in Leipzig (was damals für einen Musiker üblich war, vgl. Telemann u. a.) konnte Homilius aufleben. Möglicherweise war er auch Schüler von J. S. Bach, was jedoch nicht belegt ist. Er war Organist und 3 Jahrzehnte lang Kreuzkantor – der 1. komponierende (während zahlreiche Thomaskantoren vor Bach schon komponierten) – und Musikdirektor der 3 Hauptkirchen (Kreuzkirche, Frauenkirche, Sophienkirche) in Dresden.
Er schrieb etwa 200 Kantaten, 60 Motetten, 11 abendfüllende Oratorien und einige Orgelwerke. Das Besondere an seinen Kompositionen ist die Vielfalt der musikalischen Erfindungen und das Suchen nach neuen Formen. Vor allem in Chorsätzen sind erstaunliche Gestaltungsideen zu entdecken. Er soll auch in alten Sprachen (vor allem Altgriechisch und Latein), die er im Rahmen seiner Kantorentätigkeit unterrichten musste (26 Stunden pro Woche) sehr bewandert gewesen sein, weshalb er auch 2 Motetten auf griechische Texte schrieb. Eine davon erklang im Konzert in der Loschwitzer Kirche (31.1.).
Alles in allem konnte man eine würdige Homilius-Ehrung erleben, die dazu angetan war, dieser Musik neue Freunde zu gewinnen und zu bewirken, dass diese Musik (hoffentlich) weitergetragen und gepflegt wird.
Ingrid Gerk