Konzerthaus Dortmund: Berg WOZZECK – konzertante Aufführung am 31. Oktober 2012
Alle Solisten, in der Mitte Esa Pekka Salonen. Foto: Petra Coddington
Von Zeitinseln spricht man beim Konzerthaus Dortmund, wenn mehrere Konzerte hintereinander einem einzelnen Interpreten, Orchester oder besonders einem Komponisten gewidmet sind. Ende Oktober und Anfang November fand eine solche „Zeitinsel“ für Alban Berg statt, in der neben Werken Bergs auch solche kompositorisch verwandter Komponisten wie Mahler, Zemlinsky und Schönberg aber auch ganz gegensätzlich das „Heldenleben“ von Richard Strauss aufgeführt wurden.
Also hinauf auf die „Zeitinsel“, deren Höhepunkt war die konzertante Aufführung von „Wozzeck“ durch das Philharmonia Orchestra unter Leitung des „Konzerthaus-Exklusivkünstlers“ Esa-Pekka Salonen, die schon Bartoks „Herzog Blaubarts Burg“ im vergangenen Jahr aufführten.
Angekündigt war eine konzertante Aufführung, aber erfreulicherweise war es fast eine halbszenische. Vor dem Orchester war auf dem gesamten Bühnenrand ein Streifen für die Sänger freigehalten. Da die Darsteller der wichtigsten Personen die Oper auch schon szenisch gespielt hatten, konnte das Bühnengeschehen glaubhaft angedeutet werden. Das galt besonders für den Wozzeck des Johan Reuter, der die von allen gequälte und verspottete Kreatur, deren unterdrückte Wut sich dann nicht gegen den körperlich überlegenen Tambourmajor, sondern gegen die ungetreue Geliebte richtet, intensiv spielte. Ks Angelika Denoke als Marie sang wiegend ihr nicht vorhandenes Kind in den Schlaf. Die beiden Buffopartien des dauernd nervösen Hauptmanns (Peter Hoare) und des am Menschen experimentierfreudigen Doktors (Tijl Faveyts) lassen sich leicht in dem traurigen Stück erheiternd spielen. Beide drücken Wozzeck auch Geld in die Hand für seine Rasierdienste und Tätigkeit als medizinisches Versuchskaninchen (Pissen). Auch bei den „Kostümen“ waren Unterschiede zu sehen, alle in schwarz, aber der Doktor mit Krawatte und der stolze Tambourmajor (Hubert Francis) statt Paradeuniform im Frack.
Bei „Wozzeck“ verlangt Alban Berg neben Gesang auch Sprechstimme als „rythmische Deklamation“ (Sprechen in vorgezeichneten Tonhöhen) und „gewöhnliches Sprechen“. Für letzteres ist dann die deutsche Aussprache sehr wichtig, was allen Mitwirkenden obwohl aus verschiedenen Ländern stammend erstaunlich gut gelang. Angesichts des riesigen Orchesters direkt hinter ihnen waren bei lauten Stellen alle bis zur Grenze ihrer stimmlichen Möglichkeiten gefordert – für den Zuschauer war dann doch die Übertitelung hilfreich.
Angela Denoke, Peter Hoare. Foto: Petra Coddington
Johan Reuter gelang auch stimmlich eine vielschichtige Darstellung des Wozzeck, dunkelgefärbt bei den Ahnungen künftigen Unheils, mit fast zu edlem Legato (molto cantabile schreibt Berg einmal vor) etwa bei den Bibelzitaten und stark in den Wutanfällen, ohne die Stimme zu überfordern. Ks Angela Denoke beherrschte gelungen den grossen Tonumfang ihrer Partie bis hin zum hohen C. Innig mit der von Berg geforderten Kopfstimme sang sie die verfremdeten Wiegenlieder zu ihrem Buben und machte in ihrer größten Szene zu Beginn des III. Aktes den Unterschied zwischen Sprache, gesprochenen Tönen und Gesang sehr deutlich. Verführerisch klang das „Immer zu“ in der Szene im Wirtshaus mit dem Tambourmajor. Höhepunkt war dann das Largo von Marie und Wozzeck nur begleitet vom Kammerorchester im II. Akt.
Der Tambourmajor wurde von Hubert Francis nicht als Parodie eines Heldentenors sondern mit heller Stimme etwas italienisch nachempfunden gesungen, auch das geforderte Pfeifen gelang ihm tongenau. Joshua Ellicott als Wozzecks Kamerad Andres beherrschte die Koloraturen beim verfremdeten Jägerlied im I. Akt gut. Peter Hoare sang den manchmal keuchenden und hustenden Hauptmann mit klarem Tenor bis hin zum gewollten Falsett. Tijl Faveyts zeigte mit gutgeführtem Bass den Wissenschaftswahn des Doktors, sieht man einmal von Schwierigkeiten bei ganz tiefen Tönen ab. Handwerksburschen, Margret (Anna Burford) und die kleine Partie des Narren (Harry Nicoll) passten zum Ensemble, wobei Henry Waddington als erster Handwerksbursche im III. Akt das Lied von der Seele und dem Branntewein besonders gut gelang.
Wenn Chöre benötigt werden, hat Dortmund das Glück, Sitz der Chorakademie zu sein. So glänzten auch hier Chor und Jugendkammerchor hinter der Bühne aufgestellt mit dem verfremdeten Jägerlied und auch mit dem Summchor im III. Akt.(Einstudierung Joachim Gerbens) Sehr schön klang auch der links oben aufgestellte Opern-Kinderchor. (Einstudierung Zeljo Davutovic). Eines seiner Mitglieder erhielt als Maries Bube nach seinem unendlich traurigen „Hopp-Hopp“ als letztem gesungenem Wort der Oper zu Recht besonderen Applaus.
Neben dem „normalen“ spätromantisch grossen Orchester mit zusätzlichem Schlagzeug schreibt Berg ein abgesondertes „Kammerorchester“ wohl als Zeichen der Verehrung von Arnold Schönberg vor, das hier aus dem grossen Orchester gebildet wurde. Ausserdem kommen Trommeln und Militärmusik im I. Akt vor, die rechts ausserhalb des Konzertsaals gespielt wurden, sodaß Marie den Tambourmajor mit Regiment aus der Ferne hören konnte. Für die Wirtshausszene des II. Aktes wird eine „Heurigenmusik“ mit Fideln, Akkordeon und Gitarren verwandt, die in der hinteren rechten Ecke des Orchesters platziert wurde. Dahinter stand noch das für die Schenkenszene des III. Aktes geforderte verstimmte Klavier, das man neben den gleichzeitig spielenden Geigen, Harfe und Triangel kaum hörte und versteckt hinter den anderen Instrumenten nicht sah.
Esa-Pekka Salonen hatte mit zügigen Tempi diesen Apparat vollständig im Griff – so wurde aus dem „langsamen Ländler“ im II. Akt ein immer schneller werdender Ländler – gut passend zur etwas irrealen Atmosphäre in der Wirtshausszene. Im Programmheft wurden die Titel der absolutmusikalischen Orchesterbegleitung genannt, die man nach Bergs Bekunden gar nicht hören sollte.
So rhytmisch genau und exakt wurde gespielt, daß man Fugen, Variationssätze und ähnliche Formen manchmal erkennen konnte. Die dynamische Breite des Orchestersatzes wurde voll ausgespielt, als Beispiel sei genannt das Crescendo des gesamten Orchesters nach Maries Tod vom ppp bis zum sfffz innerhalb von sechs Takten – es raubte einem förmlich den Atem – das Konzerthaus bebte!
Bei den vielen solistischen Stellen konnten Mitglieder des Orchesters ihr Können zeigen, stellvertretend seien genannt die Soloviolinen, die von anderen Komponisten stiefmütterlich behandelte Bratsche – hier schon gleich mit einem längeren Solo zu Beginn des I. Aktes, Fagotte, alle im Piano wunderbar sonor klingenden Blechbläser und die Klarinette für die Unkenrufe des letzten Aktes.
Das Publikum im sehr gut besuchten Konzerthaus klatschte lange Beifall und ließ Bravos hören für Orchester mit Dirigenten, die Sänger der Hauptpartien, allen voran Ks Angela Denoke, die im Januar als konzertante Kundry ins Konzerthaus Dortmund zurückkehrt.
Sigi Brockmann
Fotos Petra Coddington