DORTMUND: BORIS GODUNOW Premiere am 30.9.2012
Die Entstehungsgeschichte von „Boris Godunow“ ist außerordentlich kompliziert und entbehrt nicht tragischer Züge. Es vereinfacht die Rekapitulation der Vorgänge, wenn man sich auf die Begriffe „Ur-„ und „Original-Boris“ beschränkt. Der gravierendste Unterschied besteht im sogenannten Polen-Akt, welcher dem ursprünglich gänzlich männerdominanten Werk eine repräsentative Frauenfigur hinzufügt. Diese Veränderung ergibt durchaus Sinn, auch im Sinne eines politischen Akzentes. Im Übrigen hatte der Komponist zunächst selber in diese Richtung gedacht, ohne den vorherrschenden Publikumsgeschmack vor Augen zu haben. Zur Rezeptionsgeschichte des Werkes gehören schließlich noch die verschiedenen Orchesterfassungen, wobei die luxuriös glättende von Nikolai Rimsky-Korsakov der Oper jahrzehntelang einen letztlich verfälschenden Stempel aufdrückte. Die Dortmunder Oper hätte ihren Entscheid für die Urfassung (in russischer Sprache) ruhig offensiver ankündigen dürfen, anstatt den Hinweis in die Werkeinführung ihres Hausdramaturgen zu verbannen.
JAC VAN STEEN, der demnächst scheidende GMD der DORTMUNDER PHILHARMONIKER, verwirklicht die sprödere Musiksprache Mussorgskys zunächst eher moderat, lässt ihre eruptiven Emotionen nur maßvoll glühen. Später jedoch kommt es zu einer dramatischen Klangverdichtung, auch wenn letzte Erregtheit ausbleibt. Der zuletzt bei Mendelssohns „Elias“ als wunderbar singendes und spielendes Kollektiv erlebte Chor des Hauses ist auch jetzt von enormer Präsenz.
Der historische Boris war eine äußerst schillernde Figur. Ob er den unmündigen Thronfolger Dimitrij beseitigen ließ, um selber Zar werden zu können, ist nicht unumstößlich erwiesen. Das der Oper zugrunde liegende Puschkin-Drama glaubt indes daran und zeichnet Boris als einen „Mörder“, der ähnlich wie Shakespeares Macbeth zuletzt an seiner Schuld zerbricht. Mussorgsky gestaltet die Sterbeszene ungemein suggestiv. Und wenn man sich dann noch die Interpretation des unvergleichlichen Boris Christoff ins Gedächtnis ruft, kommt bereits ohne konkretes Hören Erschütterung auf. In Dortmund ist der aus Novosibirsk stammende DIMITRY IVASHCHENKO ein überaus bezwingender Vertreter der Partie. Das Alter des Sängers (um die 40, geschätzt) lässt Boris‘ Schuldigwerden besonders plausibel erscheinen, ähnlich wie in „Rheingold“ eigentlich nur ein junger Wotan das unkluge, ja verbrecherische Tun des Gottes nachvollziehen lässt. Ivashchenko gestaltet seine Rolle mir autoritativer Stimmfülle, überemotionalisiert aber dankenswerterweise nicht. Dazu passt, dass sich IRINA BARTELS für zeitlos moderne Kostüme entschieden hat, welche traditionellen Prunk radikal hinter sich lassen (freilich gibt es als historisches Zitat Zarenmantel und Herrscherinsignien).
Eine gewisse – wenn man so will – Nüchternheit prägt auch die Inszenierung von KATHARINA THOMA. Diese drückt sich sogleich im Bühnenbild von STEFAN HAGENEIER aus, ein gleich bleibender, zisternenhafter Ort mit klobigem Gemäuer, welches höchstens durch wechselnde Türöffnungen und Lichtstimmungen variiert wird. Für konkrete Ortshinweise genügen bei Bedarf laubsägeartige Spieldekorationen. Katharina Thoma sucht nicht nach der großen Repräsentationsoper, sondern nach geschichtlicher Wahrheit. So werden beispielsweise die intriganten Machenschaften von Schuiskij (wie immer ungemein bühnenpräsent: HANNES BROCK) alleine schon gestisch sinnfällig gemacht, beim Volk die unberechenbaren Gefühlsumschwünge verdeutlicht. Die Ermordung des kleinen Dimitrij wird eingangs pantomimisch dargestellt, der Knabe erscheint auch danach noch als Mahnfigur; die Todesglocke schlägt Pimen höchstpersönlich. Nicht in allen Belangen wirkt die Inszenierung Katarina Thomas dringlich, und die interpretatorischen Erklärungen der Regisseurin im Programmhaft lesen sich schon einigermaßen verschwommen. Aber handwerklich steht ihre Arbeit auf solidem Boden.
Nahezu einschränkungslos überzeugen die Sänger. TAMARA WEIMERICH bringt mit ihrem schönen Sopran selbst eine Minirolle wie die Xenia zum Leuchten. Die Zarentochter taucht im Finalbild übrigens nochmal auf und wird von Rebellen vergewaltigt; auch andere Brutalitäten sind zu sehen. Die Klagen des Gottesnarren (anrührend: PHILIPPE CLARK HALL) erhalten nun noch mehr Gewicht. Dem Warlaam gibt WEN WEI ZHANG mit seinem fülligen, robusten Bass feste Kontur, für den falschen Dimitrij passt das heldentenorale Organ von SERGEY DROBYSHEVSKIY bestens. Positiv zu erwähnen sind schließlich noch KATHARINA PEETZ (Amme, Schankwirtin) und BLAZEJ GREK (Missail). Einzig CHRISTIAN SIST, zuletzt so beeindruckend als Mendelssohns Elias, lässt es bei Pimen ein wenig an vokaler Ausstrahlung fehlen. ILEANA MATEESCU konnte den Fjodor in der Premiere nur spielen, HANNA LARISSA NAUJOKS (aus Hannover) sang von der Seite aus. Immer wieder erstaunt, welche Qualitätsstimmen die CHORAKADEMIE DORTMUND zu bieten imstande ist. Vor einiger Zeit verkörperten zwei ihrer Mitglieder in Kölns „Turn oft he Screw“ die Partie des Miles ganz exzellent.
Christoph Zimmermann