Die Lockdowns beflügeln die Kreativität, 04.01.2021
„Hereinspaziert“, meine Damen und Herren, Sie sind jetzt meine mit großer Freude erwarteten Gäste und ganz herzlich willkommen. Fühlen Sie sich bitte bei mir wie zu Hause, obwohl ich Ihnen kein Glas Wein oder Wasser reichen kann. Wir müssen ja Abstand halten.“
Das aber ist gar nicht schwierig. Denn bei dieser imaginären Begrüßung sitze ich daheim vor dem großen Bildschirm, und meine Gäste sind weit entfernt. Mitunter trennen uns tausende Kilometer. Die während des Corona-Lockdowns deutlich verbesserte Technik überwindet diese Entfernung jedoch blitzschnell.
Dementsprechend hat das Streamen einen Aufschwung sondergleichen erlebt, und Kulturfans haben allen Anlass, dieses Angebot dankbar anzunehmen, wenn live-Erlebnisse unmöglich sind. Manches lernen lässt sich daraus außerdem.
Was meine lieben Besucherinnen und Besucher in unbeschwerten Zeiten auf Bühnen aller Art dargeboten haben oder manche nun sogar in leeren Musentempeln produzieren, kann in einem der Berliner Opernhäuser oder der Philharmonie entstanden sein. Den Anfang mit ihrem riesigen Repertoire, das im Frühjahr wochenlang gratis gestreamt wurde, machte jedoch die Met in New York, die schon bald die gesamte Spielzeit 2020/20/21 absagte.
Die Bayerische Staatsoper bietet mit ihrem Montagsstück stets Hochkarätiges. Mit einem gekauften Ticket konnte ich „La Bohème“ mit Jonas Kaufmann sogar zweimal in 24 Stunden genießen. Am 04.01.2021 standen drei Ballett-Kreationen namens PARADIGMA gratis zur Verfügung. Bei der sportlich-modernen Choreografie von Sharon Eyal konnte ich etwas mittanzen, das dritte Stück, A Chance of Rain, klassisch und großartig getanzt, konnte ich nur bewundern.
Bemerkenswerte Aktivitäten auf dem Stream-Sektor haben beispielsweise auch die Nationaloper in Paris, das Opernhaus Zürich, die Wiener Staatsoper, und die Königliche Oper Stockholm entwickelt. Letztere wurde wegen der drastisch steigenden Corona-Infektionen und –Todesfälle ab Mitte November zunächst bis zum 31.12.2020 geschlossen.
„Operndirektorin Birgitta Svendén bezeichnete diesen Schritt als traurige Botschaft, verwies jedoch darauf, dass die Gesundheit der Menschen über der Ausübung von Kunst stehe“. Zitat zu lesen in „klassik.com“.
Unter dem Motto „The Art of Looking Forward“ („Die Kunst, vorwärts zu schauen“) wurden vom Stockholmer Haus Opern und Ballette gestreamt, ebenso ein Weihnachtsprogramm und eine Neujahrsgala. Siehe auf Englisch unter https://www.operanplay.se/en/.
Ein erneuter Blick auf den Spielplan (https://www.operan.se/en/calendar) zeigt, dass fast alles weiterhin gecancelt ist. Nur das Ballett Schwanensee hat den Shutdown überdauert, läuft bis 5.2. und ist stets ausverkauft. Vom 6.-27. Februar will man mit „Salome“ starten. Auch diese Vorstellungen sind ausgebucht, alles andere entfällt weiterhin.
Die anhaltende Beinahe-Schließung verwundert nicht, ist doch auch der selbstbewusste Staatsepidemiologe Tegnell neuerdings über die Corona-Zahlen beunruhigt. Der schwedische König Carl XVI Gustav wurde bezüglich des Schwedischen Sonderwegs, der auch anderswo Sympathisanten fand, noch deutlicher: „Ich denke, wir sind gescheitert“, sagte er in einem Interview, das das schwedischen Fernsehen SVT am 17.12. in Ausschnitten sendete. Mit 400 Infektionen auf 100.000 Einwohner am 29.12. übertraf Schweden Deutschland und Österreich erheblich.
Auch woanders ist noch keine Besserung in Sicht ist. Im Gegenteil. In Deutschland wird am Dienstag über neue Maßnahmen entschieden. Dass der zunächst bis mindestens 10. Januar terminierte Lockdown verlängert wird, pfeifen seit Tagen die Spatzen von den Dächern. Fragt sich nur, ob um zwei oder drei Wochen. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer sind darüber unterschiedlicher Meinung.
Die schlimmsten drei Monate lägen noch vor uns, warnen Experten. Und wie werden sich die Weihnachts- und Silvesterfeiern mitsamt den Wintersport- und sonstigen Aktivitäten auf die Fallzahlen auswirken? Das wird sich Mitte Januar zeigen und vermutlich Auswirkungen auf den Kultursektor haben. Erst im Frühjahr könnte gelockert werden, äußerten die Verantwortlich schon vor einigen Wochen. Die Oper Leipzig hat bereits bis zum 28. Februar die Türen geschlossen und streamt ebenfalls.
Wie zunächst aus Wien zu erfahren war, sollte die Staatsoper nach dem 18. Januar von Freitag bis Sonntag wieder für eine begrenzte Zuschauerzahl wieder öffnen dürfen. Danach war noch vom einem Corona-Pflichttest die Rede. In den Internet-Infos des zuständigen Ministeriums war am 04.01. spätabends darüber nichts zu finden. Für Touristen wurde jedoch die Möglichkeit des Freitestens gekippt.
Immerhin zeigte diese Idee, dass man der Behauptung, noch niemand habe sich in der Oper, im Theater oder im Kino angesteckt, keinen Glauben schenkt. Eine belastbare Beweiskette fehlt tatsächlich bis heute. Wohlweislich spricht auch niemand vom Risiko bei der Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die in Berlin die meisten Opern-, Theater- und Konzertbesucher benutzen müssen.
Weil sich die Impfungen verzögern, werde ich weiter mit Vergnügen streamen. Da in fast allen Ländern dieser Erde „life“ vor „live“ geht, wird es genug Interessantes geben. Es macht auch gar keinen Sinn, weiter das Fehlen von Live-Erlebnissen zu beklagen. Darbenden Künstlerinnen und Künstlern wird damit auch nicht geholfen. Haben die Jammernden schon jemals gespendet? Als Fans der Hochkultur sind wir ohnehin eine einflussarme Minderheit, deren „Live-Gelüste“ zum größten Teil durch die Steuern der Mehrheit finanziert werden, die mit gleichem Recht andere Dinge bevorzugt.
All’ das bedenkend, bedanke ich mich erneut bei meinen Gästen, die mir 2020 viel Schönes frei Haus geliefert haben, darunter großartige Aufführungen aus fernen Städten, die ich in normalen Zeiten aus Zeit- und Geldmangel nie live erlebt hätte. Diese zudem mit Details, die sich auf dem teuersten Sitz so genau nicht erkennen lassen.
Der Nahblick in die Gesichter macht deutlich, wer eine Rolle mit Leib und Seele verkörpert. Auch lässt sich beim Zurückscrollen manche Arie nochmals genießen, weniger Gelungenes jedoch per Knopfdruck beenden. Die Intendanten/innen müssen sich nun Vergleiche gefallen lassen. Das durch die Stream-Erfahrungen geschulte Publikum wird sich künftig hoffentlich nicht mehr mit angestaubten Repertoire-Stücken abspeisen lassen.
Konkurrenz belebt andererseits das Geschäft, und da gilt es Flagge zu zeigen. Offensichtlich hat das Bogdan Roščić, der neue Direktor der Wiener Staatsoper, schnell begriffen. Nun streamt das Haus gratis und über die Landesgrenzen hinaus, wie es woanders längst geschieht. Auch das wurde nun ausgestrahlt, was gerade Premiere hatte.
Also habe ich mir den neuen Eugen Onegin ebenso gerne zu Gemüte geführt wie Cavalleria Rusticana / Pagliacci . Dank der dann wieder kostenlosen Met-Streams konnte ich bei „Romeo et Juliette“ deren Fassung vom Dez. 2007 (mit Anna Netrebko und Roberto Alagna) mit der in Wien vom Februar 2017 (mit Aida Garifullina und Juan Diego Flórez) vergleichen, übrigens beide Aufführungen dirigiert von Plácido Domingo.
Und was für Sänger/innen-Feste waren „Anna Bolena“ von 2011 (mit Anna Netrebko, Elīna Garanča und Ildebrando D`Arcangelo) sowie der neuere, nun auch gestreamte „Don Carlos“ mit Jonas Kaufmann, Igor Golovatenko, Malin Byström und Eve-Maud-Hubeaux.
Von Abstandswahrung war auf der Bühne oft kaum etwas zu bemerken, passt ja auch nicht immer. Vermutlich werden an der Wiener Staatsoper alle Mitwirkenden ständig getestet, aber wer bezahlt das eigentlich und nicht nur dort?
Wolfgang Koch (Scarpia), Anna Netrebko (Tosca). Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Mit dem sofortigen Streamen von Opern- und Ballett-Premieren – für die Wiener Staatsoper ein Quantensprung – ist das Traditionshaus nun voll in der „neuen Realität“ angekommen. Ohnehin macht es keinen Sinn, ein sattsam geprobtes Stück wer weiß wie lange zu lagern.
Selbstverständlich habe ich mir am 13. Dezember 2020 Puccinis erneuerte „TOSCA“ zeitlich geleistet, über das altgediente Bühnenbild hinweggeschaut und Anna Netrebko bei diesem Rollendebüt ohne Publikum bewundert. Als Caravadossi an ihrer Seite hielt sich wacker ihr Ehemann Yusif Eyvazov.
Am 14.12. übertraf die Wiener Staatsoper sogar sich selbst. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass eine tatsächlich hauseigene Premiere, aufgeführt im leeren Saal, direkt gestreamt wurde. Gemeint ist Hans Werner Henzes († 2012) Oper „Das verratene Meer“. Über den Inhalt und die Interpreten gab es schon genug zu lesen. Wichtiger war mir die Musik als solche, und die hielt die erfahrene Simone Young in sicheren Händen. Sie hat Henzes Klangreichtum verwirklicht, dem er wider alle Zeitströmungen treu geblieben ist.
Das Eigentliche war für mich jedoch der Kontrast von Henzes Oper zu Puccinis „Tosca“ am Abend zuvor und Wagners neu inszeniertem „Lohengrin“ an der Staatsoper Berlin, der sich zeitversetzt noch in der Nacht zwischen diese beiden Opern schob. Per saldo eine nicht alltägliche Erfahrung, und die wollte ich sofort machen.
Wegen der Inszenierung durch Calixto Bieito hätte ich mir diese Nachtschicht jedoch nicht angetan. Seine Revoluzzer-Zeit ist vorbei, nun wirft er nur einige Brocken in die Gegend, aus denen sich das Publikum einen Reim machen kann oder auch nicht.
Dass Lohengrin per Boot, gezogen von einem Schwan, der bedrängten Elsa zu Hilfe eilt, ist Bieito wohl ziemlich egal. Der Berliner Lohengrin bräuchte bei der Fahrt über die Spree jedenfalls einen kräftigen Schwan. Bieito aber gönnt ihm nur ein lächerliches Origami-Schwänchen und genehmigt dem Liebespaar nach dem „Endlich allein“ ein viel zu schmales Sofa auf Kunstgras.
Erfreulich gerät jedoch der musikalische Teil, ein „Lohengrin“ in kammermusikalischer Fassung. Die wird erstaunlicherweise nicht von Daniel Barenboim selbst dirigiert, sondern von Matthias Pintscher. Also mal keine hoch aufwallenden Wagner-Wogen, sondern ein angenehm durchhörbares Gewebe in differenzierten Klangfarben.
Roberto Alagna (Lohengrin), Vida Mikneviciute (Elsa). Foto. Monika Rittershaus
Roberto Alagna als Lohengrin ist ein recht später Debütant. Bekanntlich sollte er schon 2018 – angeblich auf Thielemanns Anregung – diese Rolle in Bayreuth singen, sagte aber fast in letzter Minute ab. Er hätte nicht genug Zeit gehabt, noch den dritten Akt zu lernen, gestand er freimütig.
Endlich mal einer, der ehrlich kundtat, was der Vor-Corona-Wanderzirkus den vielerorts gefragten Stars abverlangt hatte. „Wir müssen lernen, nein zu sagen“, äußerte er in einem Interview mit der „Welt“, das am 12.12.2020, genau vor dieser Premiere, veröffentlicht wurde.
Im Übrigen mag ich das Timbre von Alagnas Tenor. Sein Lohengrin ist kein Wagner-Recke aus dem grauen Norden, sondern ein lebensfroher Fahrensmann vom sonnigen Mittelmeergestade. Seinen Gegner besiegt er nicht mit Waffen, sondern mit Geisteskraft. – Gerade wurde er in Paris zum Offizier der Ehrenlegion ernannt.
Sein gesungenes Deutsch empfinde ich als überraschend gut, doch selbstverständlich ist diese für ihn ungewohnte Wagner-Sprache sicherlich nicht. Womöglich steuert er deshalb die hohen Töne gelegentlich von unten an, um sie dann in richtiger Höhe kräftig auszusingen.
Per saldo macht er bei der Premiere seine Sache gut und füllte die Rolle mit Charme und Wärme. Sein „Nie sollst Du mich befragen“, kommt bei ihm nicht so brutal drohend daher, wie ich es von Klaus Florian Vogt gehört habe.
Eine positive Überraschung beim neuen Berliner „Lohengrin“ ist die Litauerin Vida Miknevičiūtė, eine superschlanke Frau mit vollem, glasklarem Sopran. In nur 14 Tagen hat sie als Einspringerin Rolle der Elsa perfekt gelernt.
Meine Favoritin wird jedoch Ekaterina Gubanova als Ortrud. Eine hinterhältige, aparte Böse, stimmlich und darstellerisch in Topform. Da jedoch per Stream alles ganz genau zu sehen ist, hoffe ich inständig, dass der bravouröse Bassist René Pape, hier ein König Heinrich mit zittrigen Händen und zuckenden Gesichtsmuskeln, die Parkinson-Erkrankung nur perfekt imitiert hat und ansonsten bei bester Gesundheit ist.
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Ein Sonderlob verdienen die Kreativen
Noch mehr als ein früheres oder ohnehin geplantes Werk zu streamen, imponieren mir diejenigen, die mit Mut, Einfallsreichtum und Können unter Pandemie-Bedingungen etwas qualitätsvoll Neues produzieren und dabei den durch Corona verursachten Digital-Schub clever nutzen.
Vorreiter und wohl der weltweit Erste war Michael Maul (42), Intendant vom Bachfest Leipzig. Als diese internationale Großveranstaltung abgesagt werden musste, konnte er mit Hilfe der Bach-Experten vor Ort und der globalen Bach-Gemeinde in einem Spurt gegen die Uhr am Karfreitag eine Corona-taugliche Johannes-Passion streamen lassen, live gespielt und gesungen von nur Wenigen in der Thomaskirche.
Die vorab aufgenommenen Chöre von Bachstätten in Europa, Amerika und Asien wurden zugeschaltet. Da auch die Noten gestreamt wurden, haben tausende Bachfans in weiter Ferne mitgesungen. Über die Streaming-Portale des Bach-Archivs, des MDR und von ARTE wurde diese Johannes-Passion in rund 76 Länder übertragen und weltweit über 500.000-mal abgerufen. Gespendet wurde auch fleißig, insgesamt 20.000,- Euro für freischaffende Musikerinnen und Musiker! Noch ist sie auf Youtube zu finden.
Doch das war nicht alles. Es folgten eine Kurzfassung der h-Moll-Messe und ein dreitägiger Bach-Marathon im Juni. Am 17. November wurde ein live-Konzert aus der Thomaskirche gestreamt. Die kanadische Pianistin Angela Hewitt spielte dort ohne Publikum Bachs „Goldberg-Variationen“ und erhielt als erste Frau die Bach-Medaille der Stadt Leipzig. Wenige Tage später wagte Michael Maul mit der digitalen Premiere der womöglich größten Fassung von Bachs h-Moll-Messe erfolgreich einen Streaming-Rekordversuch. In der Nikolai- und der Thomaskirche wurde gespielt und gesungen. Jede Stimme war nur einfach besetzt, das waren auch fast alle Instrumente. Maul selbst beteiligte sich als Geiger. Ensembles wie die Gaechinger Cantorey, aber auch Sänger/innen aus Chile, dem Oman, Japan, Singapur und Malaysia wurden zugeschaltet. Bis zum 21.02.2021 lässt sich diese h-Moll-Messe auf www.faceboook.com/bacharchiv und auf www.youtube.com/bacharchivleipzig nacherleben.
Auf ähnliche Ideen kamen auch Star-Dirigenten, wie Kirill Petrenko und Daniel Barenboim, die im vergangenen Mai rd. einstündige Konzerte in kleiner, Corona tauglicher Besetzung zum Europa-Tag bzw. zur Erinnerung an das Ende des 2. Weltkriegs in ihren leeren Häusern fürs Streamen produzierten. Zu seinem 78. Geburtstag am 15.11. gab Barenboim ein Benefiz-Konzert erneut ohne Publikum, nun gemeinsam mit András Schiff am Flügel. Er selbst dirigierte die „Eroica“, denn Heroismus ist heutzutage nötig.
Christoph Eschenbach (80) musizierte im leeren Konzerthaus-Saal zusammen mit Víkingur Ólafsson für die Musikliebhaber daheim. Offensichtlich wissen auch die Älteren, was die Stunde geschlagen hat und nun zu tun ist.
Joana Mallwitz mit dem Konzerthausorchester am 28.11.2020. Foto: Martin Walz
Das weiß auch Sebastian Nordmann, Intendant des Konzerthauses. Am 28.11. holte er Joana Mallwitz (34), Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, als Gastdirigentin für ein Konzert ins Haus. Vor Beginn der Pandemie hatte er vergeblich versucht, die viel Gefragte mal kurz nach Berlin zu locken.
Jetzt hatte es endlich geklappt. „Manchmal hat ein Lockdown auch überraschend gute Seiten“, lautete sein Fazit. Das meine: angesichts dieser topfitten Dirigentin, die die Musik im ganzen Körper hat, ohne das Lächeln zu vergessen, müssen sich die Herren Kollegen allmählich warm anziehen.
Zu den guten Seiten gehört auch Nordmanns Engagement für die sonst kaum beachtete Freie Szene. Beim Konzerthaus konnten sich freie Musiker/innen und Ensembles darum bewerben, im Februar und März 2021 mietfrei und mit logistischer Unterstützung in den Sälen des Konzerthauses aufzutreten. Die Nachfrage war groß, 10 solcher Konzerte sind für Februar geplant. Von Klassik bis Jazz und Weltmusik reicht die Palette. Also tatkräftige Hilfe statt warmer Worte.
DSO-Konzert am 7.11. Robin Ticciati und Simon Rattle als Trommler. Copyright: Peter Adamik
Auch das Deutsche Symphonieorchester Berlin (DSO) hat sich zu helfen gewusst. Vom 2. Shutdown und dem Aus für das am 7. November geplante Konzert wurde es kalt erwischt. Doch Chefdirigent Robin Ticciati reagierte blitzschnell. Dass alles nicht so bleiben wird wie bisher, hat der 37Jährige längst begriffen und schon im Dez. 2018 Händels „Messiah“ in Szene gesetzt.
Die Notwendigkeit, Menschen trotz der Schließungen „mit Kultur zu verbinden, treibt uns als Künstler mehr denn je an. Das DSO ist eine Gruppe von über hundert kreativen Köpfen, die sich zusammengeschlossen hat, um der Musik zu dienen und ihr neue Räume für einen besseren Dialog zu eröffnen“, so Ticciati vor kurzem.
Mit einem leuchtend roten Mund-Nasen-Schutz, beschriftet mit „Berlin braucht Musik“, dirigierte er am 7.11. in der leeren Philharmonie, und diesen Mund-Nasen-Schutz trugen außer den Bläsern fast alle Instrumentalisten/innen. Das war ein Statement genau wie die Erweiterung des Orchesters durch freischaffende Musikerinnen und Musiker. Um Spenden für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung wurde ebenfalls gebeten.
Überraschenderweise fand sich auch Simon Rattle, Ex-Chef der Berliner Philharmoniker und ehemaliger Mentor von Ticciati, ein. Es waren magische Momente, als Henry Purcells Marsch aus seiner Trauermusik für Queen Mary II die Philharmonie füllte und eine Trommlergruppe langsam vors Podium zog, darunter auch Ticciati und Rattle.
Anschließend dirigierte Rattle Gustav Mahlers „Lied von der Erde“, gesungen von Andrew Staples, Tenor, und Magdalena Kožená, Mezzo. Ein insgesamt sehr besonderer Abend, der durch das Streamen weit mehr Menschen erreichte, als in der ausverkauften Philharmonie Platz gefunden hätten.
Weitere neue Wege geht Ticciati – und nicht erst jetzt – mit dem britischen Regisseur Frederic Wake-Walker. Gemeinsam haben sie einen Konzertfilm mit dem Titel „IM EXIL – VON GÖTTERN UND MENSCHEN“ geschaffen. Die ersten beiden Teile hatten am 18. und 19. Dezember ihre Online-Premiere und sind insgesamt 30 Tage unter dem eigenen dso-player.de abrufbar.
Robin Ticciati dirigiert das DSO in der Friedrichswerderschen Kirche. Foto: Peter Adamik
Musiziert wurden beide Teile in der sanierten Friedrichswerderschen Kirche – einem neogotischen Schinkel-Bauwerk von 1831 – zwischen Skulpturen aus dem 19. Jahrhundert. Die Blechbläser und Solo-Oboisten spielten auch im Berliner Grunewald. Warm waren alle angezogen, denn auch in der Kirche war es kalt.
Dennoch tanzte Ticciati bei Mozarts Jupiter-Symphonie auf dem Mini-Podium. Noch nie habe ich diese überaus bekannte Symphonie so schwung- und lebensvoll erlebt wie bei diesem fürs Streamen geschaffenen Konzert.
Bachs h-Moll-Messe, musiziert in der Nikolaikirche. Copyright: Bacharchiv
Noch wesentlich bescheidener, aber ebenso animierend wurde am 25.12. Bachs Weihnachtsoratorium in reduzierter Fassung in Hamburgs Stadtteil St. Pauli aus der Taufe gehoben. In einem Bunker widmete sich das Ensemble Resonanz diesem Werk und wurde besonders für Leipzig, wo der Thomanerchor kurz vorher in Quarantäne musste, zum Retter in der Not. Die frisch erstellte „WO“-Fassung, bescheiden „Hausmusik“ genannt, wurde durch das Können und die Hingabe der Solisten/innen zu einer berührenden und Hoffnung spendenden Alternative.
Das gelang zum Jahreswechsel – wie gesondert berichtet – auch Kirill Petrenko, den Berliner Philharmonikern und dem Gast-Gitarristen Pablo Sáinz-Villegas, die mit spanischen und brasilianischen Klängen Optimismus verbreiteten. Wenn ich meine Impfungen habe, reise ich hin und auch nach Mailand.
Denn schon am 7. Dezember hatte die Mailänder Scala mit einer gestreamten Star-Gala, Edel-Garderobe und Farbenpracht viel Zuversicht auf ihre Fahnen geschrieben. Nicht ohne Grund zeigten alte Fotos zuletzt auch das kriegszerstörte Mailand. Wir haben den Wiederaufbau geschafft, nun schaffen wir es auch, das Corona-Virus zurückzudrängen, war die deutliche Botschaft. Doch wie die Menschen damals müssen wir dafür arbeiten, auch an uns selbst.
Ursula Wiegand