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DIE GANZE WAHRHEIT ÜBER MÜNCHHAUSEN & CO.

08.06.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Tina Breckwoldt
DIE GANZE WAHRHEIT ÜBER MÜNCHHAUSEN & CO.
Über 300 Jahre Lügengeschichten
288 Seiten, Benevento Verlag, 2020

Hans Albers reitet auf der Kanonenkugel – und wenn man dem Baron Münchhausen, dem „Lügenbaron“, der sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zieht, nicht schon im Kinderbuch begegnet wäre, dieser Film hätte ihn verewigt. Und wäre da nicht Corona, befände sich vermutlich ganz Niedersachsen in einem ganzjährigen „Münchhausen“-Taumel, ist der Herr doch historisch – und vor dreihundert Jahren, am 11. Mai 1720, auf Gut Bodenwerder geboren worden, wo er am 22. Februar 1797 auch gestorben ist. Und – seine Lügengeschichten hat er nicht selbst aufgeschrieben. Trotzdem ist er berühmt dafür. Über alle Maßen sogar.

Und das ist eine durchaus komplizierte Geschichte, der sich die Autorin Tina Breckwoldt keinesfalls oberflächlich und ungebührlich populär annimmt. Im Gegenteil. Zu Recht betont Matthias, Freiherr von Münchhausen, im Vorwort, dass seinem Uronkel nun endlich Gerechtigkeit widerfahre.

Tatsächlich erfährt man mehr, als man je wusste – über den historischen Münchhausen; über die beiden Männer, die seinen Namen und seine Geschichten „gestohlen“ haben, um damit reich zu werden (die höhere Gerechtigkeit besteht darin, dass sie heute kaum noch jemand kennt); über das Phänomen „Lügen“ an sich, was sehr interessant ist, wenn es sich in Literatur verwandelt; und schließlich darüber, was Münchhausen in den anderen Künsten alles ausgelöst hat…

Die Münchhausen waren eine alte (bis ins 12, Jahrhundert zurückgehende) deutsche Adelsfamilie, nicht Hochadel, aber niedersächsischer Kleinadel, dessen Mitglieder es so gut wie alle zu etwas gebracht haben. Ihre Besitztümer waren weit verstreut und waren auch immer wieder geteilt worden – für unseren Helden, dritter Sohn eines dritten Sohnes, blieb nach den üblichen Erbschaftsstreitigkeiten schließlich sein Geburtssitz. Bis er sich hier allerdings zurückziehen und das Leben eines Landadeligen führen konnte, Verwalter seiner Güter, passionierter Jäger und berühmter „Entertainer“ im Freundeskreis, der alle mit seinen tollen Geschichten unterhielt – bis dahin hatte er einiges erlebt.

Ein Sohn aus adeliger Familie kam an den Fürstenhof, dem man verbunden war, Hieronymus Carl Friedrich also als Page zu den Braunschweigern. Da konnte er schon als Dreizehnjähriger miterleben, wie höfisches Leben und höfischer Prunk explodierten, wenn die Tochter des herrschenden Herzogs, Elisabeth Christine, den preußischen Kronprinzen (ja, später als Friedrich der Große bekannt) heiratete. Autorin Tina Breckwoldt hat für ihre historischen Recherchen nicht nur viele Briefe in Archiven gefunden und hier reichlich zitiert, sondern auch in alten Dokumenten gestöbert: Ja, Hieronymus Carl Friedrich, der junge Münchhausen, findet sich im Wolfenbüttler Pagenbuch verzeichnet.

Fürstliche Heiratspolitik bedeutete, wie die Autorin vermerkt, letztendlich auch, wer gegen wen keinen Krieg führte – zumindest temporär. Da sollte Münchhausen später am eignen Leib erfahren, wie die Zeitläufe mit ihren Menschen umsprangen und politische Bündnisse umdrehten. Als Siebzehnjähriger wurde er ausgewählt, dem Prinzen Anton Ulrich nach Russland zu folgen. Dort sollte dieser die Erbin von Zarin Anna Iwanowa heiraten. Die Reise führte im bittersten Winter über Libau, Königsberg, Mittau und Riga nach St. Petersburg. Das Leben war damals kein Honigschlecken. Und was der junge Münchhausen am Hof der Zaren erlebte, war so exzentrisch, so überbordend, so luxuriös, dass seine späteren Erzählungen davon möglicherweise gar nicht übertrieben waren…

Anton Ulrich heiratete unter enormem Prunk die Erbin, Anna Leopoldina, ihr Babysohn wurde Zar, aber schnell entmachtet von Elisabeth, einer Tochter Peters des Großen, die sich zur Zarin machte. Da war der junge Münchhausen schon aus dem Hofdienst ausgestiegen, zum Militär gegangen und in Riga stationiert, keine schlechte Sache, wenn der Prinz, mit dem er gekommen war, nun ins Exil verbannt wurde. Regimentsalltag in Riga war nicht so gefährlich wie das Hofleben in St. Petersburg, aber auch weniger prunkvoll – amüsant ist ein Brief, den der junge Mann an seine Mutter schrieb, mit genauer Anweisung, welche Kleidungsstücke (plus Unterwäsche) sie ihm schicken sollte…

Münchhausen, der in Lettland nicht nur die fabulierende Erzählkunst dieser Region kennen lernte, sondern auch Jacobine von Gunten heiratete, mit der ihn bis zu ihrem Tod eine glückliche Ehe verband, musste nach dem Tod der Mutter mit den Geschwistern lange um seinen Anteil am Erbe streiten (wie das wohl immer und überall so ist). Er pendelte oft zwischen Riga und seiner Heimat und verließ schließlich als 34jähriger ehrenvoll die russische Armee, mit der Absicht, sich seinem Leben als deutscher Landadeliger zu widmen. Um zu entdecken, dass zwei Jahre später, als 1756 der später so genannte Siebenjährige Krieg begann, die Braunschweiger mit Preußen und England gegen die Russen kämpften – gegen jene Armee, in der er ehrenvoll gedient hatte… Den Krieg erlebte er allerdings vor allem durch die Besatzung seiner Güter durch erfolgreiche Feinde, und erst danach konnte man wieder ein angenehmes Leben führen. Und in dem Kurbad Pyrmont auch viele Berühmtheiten der Zeit (inklusive Goethe) treffen.

Münchhausen, der als fabelhafter Erzähler von spannenden, unwahrscheinlichen und witzigen Geschichten einen großen Ruf hatte („ihn zu hören, hieß privates Theater zu erleben“, schreibt die Autorin), war ziemlich empört, dass erst in London, später in Deutschland unter seinem Namen Bücher erschienen, in denen seine „Abenteuer“ in Ich-Form wiedergegeben wurden. Den beiden Herren, die dies „verbrochen“ hatten, Rudolph Erich Raspe und Gottfried August Bürger, widmet sich das Buch anschließend in ausführlichen Biographien und Psychogrammen. Davor aber muss noch das unglückliche Lebensende von Münchhausen berichtet werden. Die Gattin starb 1790 und eine echte junge Abenteurerin angelte sich wenig später den dann 74jährigen, plünderte ihn finanziell aus, unterschob ihm ein Kind und versuchte noch, obwohl er bald die Scheidung einreichte, nach seinem Tod 1797 alles Mögliche aus dieser Ehe, die nie vollzogen worden war, herauszuholen… Ein besonders tragischer Aspekt und von Walter Hasenclever in einem interessanten Theaterstück behandelt, das allerdings nie seinen Weg machte.

Rudolph Erich Raspe (1736-1794) und Gottfried August Bürger (1747-1794) waren beide fraglos hoch begabte und gebildete Männer, allerdings charakterlich doch eher fragwürdig, beide oft auf der Flucht, dauernd die Aufenthaltsorte wechselnd, mit hektischem Schreiben ihren Lebensunterhalt bestreitend. Sie waren Zeitgenossen von Münchhausen, dem sie vermutlich zwischen Göttingen, Hannover und Pyrmont (wo alle sich gelegentlich aufhielten) begegnet sind, der Adelige, der Intellektuelle und der gebildete Bürger hatten manches gemeinsam. Was Münchhausen original aus seiner verbalen Fabulierkunst holte, haben die anderen nieder geschrieben – unter Zuhilfenahme jeder Menge vorhandener literarischer Genres wie Schwänken, Fabeln, Märchen.

Dass die Lüge gewissermaßen integral zur Literatur gehört, dem widmet die Autorin ein großes, interessantes, an Beispielen reiches Kapitel, das von den frühesten Anfängen des Geschriebenen bis in die Gegenwart („Digital lügt sich’s leichter“) führt. Und das letzte Kapitel blättert dann vom Kinderbuch bis zur Oper, vom Film bis zum „Münchhausen“-Syndrom, das in der Psychiatrie als nicht ungefährliche Selbsttäuschung bekannt ist, noch viele Aspekte auf, die mit diesem Mann verbunden sind…

Und, wie gesagt, das Paradoxon steht fest: Dass der „originale“ Freiherr von Münchhausen (von dessen realen Schicksal man kaum etwas wusste) vielleicht vergessen wäre, hätten zwei diebische Literaten seine Geschichten nicht aufgeschrieben und aufgeputzt. Und dass es die beiden sind, die keiner mehr kennt, während absolut jedermann mit „Münchhausen“ etwas verbindet. Und die meisten werden bei seinem Namen lächeln… und Hans Albers reitet auf der Kanonenkugel.

Renate Wagner

 

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