DESSAU Anhaltisches Theater, Der Ring des Nibelungen, 13. bis 17. Mai 2015
Szene aus „Das Rheingold“. Copyright: Claudia Heysel
Das Buch „Walküre in Detmold“ von Ralph Bollmann aus dem Jahr 2012 hatte bei mir –bis dahin eher als großstädtisch-wienerischer Opernbesucher zu bezeichnen – das Interesse an deutschen Klein- und Mittelbühnen geweckt. Und bei meinen anschließenden Reisen durch die Lande wurde ich nur selten vom Gebotenen enttäuscht. Das „Herzblut“ an diesen meist mit enormen finanziellen Problemen kämpfenden Häusern ersetzt das Engagement so manchen glamourösen Gastsängers spielend. Auch die Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit Deutschlands lernt man dabei kennen. Schon Bollmann lieferte ja nicht nur ein Kompendium der Opernhäuser, sondern ging auch auf die historische Entwicklung der Regionen und die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge ein. Und da sind wir gleich mitten drin, was meinen 650-Kilometer-Ausflug nach Sachsen-Anhalt, genau genommen in die Bauhaus-Stadt Dessau (oder eigentlich Dessau-Roßlau, wie sie seit acht Jahren heißt) betrifft.
Hier wagte der scheidende Intendant André Bücker (über den nicht ganz freiwilligen Abgang des seit 2009 diesen Posten innehabenden Regisseurs gibt es zahlreiche Interpretationen, bei denen die verantwortlichen Politiker allesamt nicht gut wegkommen, was aber nicht Gegenstand dieser Zeilen sein soll) erstmals seit 50 (!) Jahren wieder eine Aufführungsserie von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“. Eigentlich erstaunlich, dass es im „Bayreuth des Norden“, wie Dessau auch gerne bezeichnet wird, dafür so lange gedauert hat. Aber mit einem Haus in der Größe des Anhaltischen Theaters war es mit dem Aufkommen Ost-Berlins in der DDR-Zeit und den späteren ökonomischen Zwängen wahrlich nicht leicht, dieses Riesen-Projekt zu stemmen. Bücker wagte es dennoch und suchte Unterstützung in der Wirtschaft, allein mit der öffentlichen Finanzierung (und das Thema der Kultursubventionen ist speziell im Osten ein äußerst brisantes) wäre eine Realisierung wohl nicht möglich gewesen.
Dessau, wie oben erwähnt, als „Bayreuth des Nordens“ zu bezeichnen ist durchaus zulässig, denn das Theater kann hier auf eine über 150-jährige Wagner-Tradition zurückblicken. Am 20. März 1857 ging mit „Tannhäuser“ erstmals ein Wagnersches Werk über die Bühne des damaligen Herzoglichen Hoftheaters. Zahlreiche persönliche Besuche von Wagner gipfelten darin, dass der Meister 1872 persönlich nach Dessau reiste, um für seine Festspielidee zu werben. Hans Knappertsbusch, der in den 1950iger Jahren die prägende Dirigentenpersönlichkeit in Wieland Wagners „Neu-Bayreuth“ werden sollte, wirkte hier von 1919 bis 1922 als Generalmusikdirektor, wo er auch eine Neuinszenierung des Rings dirigierte. Das 1938 in Anwesenheit von Adolf Hitler eingeweihte heutige Bühnenhaus (dessen 1072 Plätze erst einmal gefüllt werden wollen) war von vornherein auch als Wagner-Theater konzipiert – und mit allen entsprechenden ideologischen Erwartungen der Bauherren belastet. Unter Intendant Willy Bodenstein avancierte es in den 1950iger Jahren – zu einem Zeitpunkt, als die Staatsoper Berlin, die Dresdner Semperoper und die Oper Leipzig noch in Trümmern lagen – zur führenden Wagner-Bühne der DDR.
Szene aus „Die Walküre“. Copyright: Claudia Heysel
Die Realisierung der aktuellen Aufführungsserie (die original den Namen„DER RING DES NIBELUNGEN in der bauhausstadtdessau“trägt) ging man in zeitlicher Hinsicht genau so an, wie Wagner historisch komponiert hatte – von hinten nach vorne!Im Mai 2012 feierte also die „Götterdämmerung“ Premiere, heuer gab es im Jänner mit dem „Rheingold“ den Abschluss. Der allererste zusammenhängende Zyklus stand nunmehr vom 13. bis 17. Mai2015 auf dem Programm, im Juni folgt noch eine Reprise. Was dann passieren wird, steht derzeit noch in den Sternen. Die finanziellen Einsparungen der öffentlichen Hand lassen befürchten, dass es der letzte Dessauer Ring gewesen sein könnte, auch wenn Bücker und sein Team zum Abschied noch ein Sparkonzept entwickelt hatten, dass den Bestand als Vier-Sparten-Theaters sichern soll.Die vier von mir besuchten Abende standen unter ganz besonderer Beobachtung: Zur gleichen Zeit fand nämlich der Internationale Richard-Wagner-Kongress statt, der über 300 Fachleute aus der ganzen Welt hier versammelt hatte.
In diesem Konnex ist natürlich eine Auseinandersetzung mit Wagners Hauptwerk eine besondere Herausforderung, zumal sich in Dessau auch die historischen Brüche des 20. Jahrhunderts in extremer Weise spiegeln. Diesem Gedanken folgte auch Bücker und sein Team. Sie betrachteten das Werk mit besonderer Berücksichtigung der „Klassischen Moderne“, die vor allem während der Bauhaus-Jahre 1926 bis 1932 hier Gestalt gewann. Mit ihrer Synthese der Künste verfolgten die Bauhaus-Meister ja ein Ziel, das auch Wagner in seinem „Gesamtkunstwerk“ erreichen wollte. Der Dessauer Intendant setzte alles daran den „genius loci“ der Bauhaus-Künstler einzubeziehen und auch wenn nicht alle Anspielungen für jedermann erkennbar waren (etwa das Triadische Ballett Oskar Schlemmers oder die besondere Funktion des Bühnenlichtes im Sinne von Adolphe Appia), so überzeugte diese Sicht. Mit den Inszenierungen Wieland Wagners im „echten“ Bayreuthim Hintergrund, die ebenfalls schon „Bauhaus-affin“ waren, konnte man auf die Umsetzung jedenfalls gespannt sein.
Wie ging nun Bücker konkret an das Werk heran? Frank Castorf hatte in seinem aktuellen Bayreuther „Ring“ das Öl an die Stelle des Edelmetalls gestellt, die Dessauer Lesart sieht die Information als wichtigstes aller Güter, die sich rasant vervielfacht und in Bildern und Zeichen Gestalt gewinnt. Die Mediengeschichte wird zum Inszenierungskonzept! Bereits im Rheingold bewachen die Rheintöchter einen Würfel (der an den berühmten Rubik’s Cube aus den 1980iger Jahren erinnert) als ihren Schatz, der Bilder alter Meister in Videoeinspielungen an die Projektionsflächen wirft. Bereits zwei Szenen später sieht man Mime und seine Gefolgschaft, wie sie Vorlagen für Comic-Filme herstellen. Aber alles noch in analoger, herkömmlicher Machart: Zeichnungen, Gemälde, auch die Projektionen verwenden noch Scherenschnitte (übrigens sehr ästhetisch gestaltet). Und der an die Riesen zu übergebende Goldschatz erweist sich als vergoldete Filmrollen!
Die Macht liegt also in diesem „Ring“ nicht im Gold oder bei den Rohstoffen, sondern in der Information. Aus heutiger Sicht ein nahe liegender logischer und nachvollziehbarer Gedanke, wie überhaupt die neuen Ideen, die in die Inszenierung eingebracht wurden, in sich und aus dem Libretto durchaus schlüssig bezeichnet werden können, wie die aktive Unterstützung Fafners durch Loge, als er Fasolt im Rheingold erschlägt.Und witzig sind sie auch noch.So etwa die komische Umsetzung der Donnerschläge im Finale des Vorabends. Oder die verzogene Sippschaft von Wotan und Fricka. Oder wenn Sieglinde den Trank für Siegmund – sprich Cola in der Aludose – mit einem lauten Plopp öffnet und später ihrem Mann bzw. ihrem Bruder das Essen aus einem Flugzeug-Trolleyschrank serviert. Oder wenn Brünnhildes erstes „Hotojo“ ins altmodische Handy mit Ausziehantenne gerufen wird und für Lacher und Zwischenapplaus (!) sorgt. Oder wenn Hagens Leute in der Götterdämmerung mit ihren Schwertern (sprich Leuchtstofföhren) ein „Heil Gunther“ darstellen. Noch selten habe ich einen „Ring“ gesehen, bei dem es so viel zum Schmunzeln gab.
In der Walküre wechselt Bücker aus dem noch betulichen 19. Jahrhundert in die 1930iger Jahre. Davon merkt man allerdings zu Beginn nichts, denn Hundings Hütte ist ein kubisches Gestell (sieht wie ein etwas in die Jahre gekommener Datenraum aus), dominiert von einer eigenartigen Weltesche, nämlich einem durchschnittenen PC-Kabelstrang. Vor den kinematographischen Bildern von Fritz Langs „Nibelungen-Film“ erzählt Siegmund seine Geschichte, Hunding lässt mit seiner Kampfgarde nie Zweifel darüber aufkommen, wer der Herr im Hause ist.
Im zweiten Akt wechselt die Handlung des Götterreiches dann in die Filmmetropole Hollywood: Wotan als Film-Tycoon, der die Regie an seine Tochter Brünnhilde abgibt. Logisch und schlüssig kippt die Handlung ab der Todesverkündigung in „Dreharbeiten“ am Set. Die Technik nützt hier alle Blue Box-Möglichkeiten und die Ergebnisse des Kameramannes und seiner Videos sind sehr beeindruckend und harmonieren ideal zur Musik. Wie ja überhaupt Wagner auch immer schon unterstellt wurde, er habe „Filmmusik“ komponiert. Hier erfolgte die Probe aufs Exempel und es passte. Am Ende dieser Kamerasequenz nimmt Wotan den Chip aus der Aufnahmekamera an sich, das Dokument mit allen Kampfhandlungen ist nun in seinem Gewahrsam. Macht durch Bilder, heute täglich in Nachrichtensendungen zu beobachten!
Einen Seitenhieb auf das „echte“Bayreuth konnte man sich auch nicht verkneifen, nämlich als Siegmund vor Mount Rushmore (bei dem Castorf in seiner aktuellen Inszenierung die vier Präsidentenköpfe durch die Ur-Kommunistenersetzte) in Szene gesetzt wird.
Der Finalakt der Walküre schwankte zwischen zwei Extremen. Einerseits ein ausgeflippter Walkürenritt inkl. Koksparty sowie ein paar Matrosenjungs und die verzweifelte Sieglinde möchte sich dann gar mit dem aus Hollywood mitgenommen „Oscar“ erstechen. Andererseits ein rührender Abschnitt Wotans, bei dem im Auditorium die Augen zu glänzen begannen, so eindringlich gestalteten die beiden ausgezeichneten Sängerschauspieler Paulsen und Derilova diese Szene. Sehenswert wie Wotan seine Lieblingswalküre eigenhändig auf den Felsen hebt – bei schwergewichtigeren Partnern als Frau Derilovawürde dies sicherlich ein Problem darstellen.
Szene aus „Siegfried“. Copyright: Claudia Heysel
Im Siegfried wird das analoge Mediengeschehen hinter sich gelassen und Jung-Siegfried ballert in seinem Videogame einen Bären weg. Fürchten braucht er sich ja in seinen Ego-Shooting-Adventure-Games nicht, eine Parallele zu seinem Wälsungenleben, wo er ja auch die Furcht nicht kennt. Mime bemüht sich zwar seinen Schützling zu verstehen und versuchte sich auch im Spiel, aber selbst mit einem uralten Tetris-Spiel kommt er nicht klar underhält immer nur die Error-Meldung: „GetHighscoreSword“. Aber das Schwert bleibt für ihn unerreichbar, das schafft Siegfried dann ganz easy im Schmiedelied, bei dem das Hämmern auf den Amboss durch das Klopfen auf die PC-Tastatur ersetzt wird (ein eher müder Gag)! Mittels einer auch schon antiquiert wirkenden CAD-Software erzeugt er das Werkstück dreidimensional auf der Leinwand, abholen muss er Nothung aber immer noch aus der Bühnengasse! Origineller wirkt da die Einblendung von vier Antwortmöglichkeiten bei der Wissenswette à la „Wer wird Millionär“! Aber insgesamt „verschenkte“ man den ersten Akt etwas, da wäre mehr drin gewesen.
Wieder aus dem Bauhausformenschatz stammen die dreieckigen Bühnenelemente des zweiten Aktes, der düster und dunkel durch realistisch bedrückende Waldeinspielungen gekennzeichnet wird. An diesem Punkt hängt der Zyklus aber erstmals ein wenig durch, die Personenführung wird nun eher konventionell und zum Thema Medien kommt Bücker erst wieder in Akt 3. Erdas Wissen erscheint projiziert im Bühnenhintergrund und wirkt antiquiert altmodisch. Wotan schickt sie gelangweilt in den Schlaf, um seinerseits aber zu erkennen, dass mit dem Durchschlagen seines Speers durch Siegfried ein totaler Computer-Error entsteht. „No Signal“ – die bewegten Bilder sind weg.
Die künstlerische Moderne ergreift wieder Oberhand, die Formen werden klar, nüchtern und geometrisch.Als der Walkürenfelsen erscheint muss Siegfried aber erkennen, dass er seine Handlungsfreiheit ebenso verloren hat wie Brünnhilde. Beide können sich nur mehr wie abgehackt bewegen und wirken nur noch ferngesteuert. Aus dem realen Leben erfolgte der Übergang ins digitale Zeitalter, die Handlungsträger erfüllen nur noch Rollenfunktionen. Mein cineastisches Nichtwissen erschwerte mir die Interpretation ab diesem Zeitpunkt, so habe ich es nur dem Hinweis einer Wienerin in einem Pausengespräche zu verdanken, dass der folgende „Plot“ viele Gemeinsamkeiten mit den Sci-Fi-Film Tron:Legacy aufweist. Wie sehr auch die Schauspielart der sogenannten Biomechanik des russischen Regisseurs WsewolodMeyerhold (aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) gewollt war und der Idee der eigenartigen Körperbewegungen den Stempel aufdrücken sollte, blieb für mich offen.
Werk-Interpretationen, die sich nur über das Lesen des Programmheftes erschließen, stehe ich eigentlich meist skeptisch gegenüber, diesmal wirkte das Resultat aber trotz meiner laienhaften Herangehensweise – und diese hattewahrscheinlich der größte Teil des Publikums – dennoch faszinierend. Allerdings muss man einem Teil des Auditoriums zugestehen, dass gerade Zitate aus der Computer- oder Filmwelt nicht so einfach zu durchschauen sind. Die Augen wurden mir diesbezüglich von einer Dame in einem Pausengespräch geöffnet, der nicht einmal das legendäre Tetris ein Begriff war.
Szene aus „Götterdämmerung“. Copyright: Claudia Heysel
In der Götterdämmerung setzte sich dann das Geschehen, das eigentlich nur noch im Computer auf der Festplatte in binärer Form stattfindet, munter fort. Störend fand ich lediglich die Tatsache, dass nicht alle Sänger die mechanischen, roboterhaften Bewegungen der Figuren aus Computerspielen (den Kostümen nach mit japanischer Provenienz) in der gleichen Intensität auslegten wie etwa Gunther und warum Alberich und Hagen auf diese gänzlich verzichteten (gewollt oder ungewollt?) erschloss sich mir auch nicht. Der Tremor der Handbewegungen von Gunther störte eine Vielzahl von Besuchern, bei mir weckte sie hingegen Assoziationen an einen flackernden Computerscreen. Und wie sehr die heutige Zeit von eben dieser binären Welt geprägt ist, erlebte man beim hässlichen Klingeln eines Handys im Zuschauerraum im 2. Akt! Das Finale blieb dann in eher konventionellem Rahmen: Nach allen ästhetisch hervorragenden Projektionen und perfekter Bühnenmaschinerie (sieht man von einem zu früh hochgehenden Vorhang beimTrauermarsch ab) erscheint am Ende ein Kind als Jung-Siegfried, der an die Bühnenkante vorgeht, während ein weißer Rundhorizont wiederum die gesamte Bühne einhüllt und die gleiche Ausgangssituation wie im Rheingold entstehen lässt.
Für die Bühnengestaltung zeichnete Jan Steigert verantwortlich und er brachte die Bauhaus-Ästhetik und –Formensprachen sehr gekonnt ein. Für Rheingold wählte er riesige Silhouetten, zweidimensional und verschachtelt angeordnet, weiß dominiert und die Projektionen und Farbregie sorgen für logische Effekte (etwa die blauen Pinselstriche auf dem unbefleckten weißen Papier zu Beginn, die schließlich den blauen Rhein ergeben). Wie sich die Götterfamilie dann von einem kubistischen Walhall begeistert zeigt und dieses auch körperlich in Besitz nimmt, unterscheidet sich doch grundlegend vom sonst üblichen Überschreiten der Brücke und integriert die Regenbogen durch Lichteffekte. Noch beeindruckender dominierte der Walkürenfelsen die folgenden Akte und die Gibichungenhalle nutzte die kompletten technischen Gegebenheiten der Bühne inkl. Hebebühne und Aufzüge.
Ein durchgehender Rundhorizont kommt an allen vier Abenden zum Einsatz und stellt eigentlich gemeinsam mit den massenhaft und liebevoll ausgewählten Videopassagen ein eigenes Regieelement dar. Die Projektionsflächen links, rechts und oben, die gemeinsam einenBühnen-Guckkasten ergeben, werden für die Videos ideal genutzt. Das dafür verantwortliche Team (Frank Vetter und Michael Ott) leistete Schwerarbeit (das Programmheft nennt 7.200 Arbeitsstunden), um alle Nuancen ihrer Einspielungen beurteilen zu können, müsste man aber wahrscheinlich eine DVD-Aufzeichnung analysieren.
Für die erfreulich ästhetischen Kostüme sorgte Suse Tobisch, eine Augenweide, wie man sie heute nur noch ganz selten geboten bekommt. Keusches Weiß dominiert im Rheingold, angesiedelt etwa Ende des 19. Jahrhunderts. In der Walküre kommt mehr Farbe dazu, aber zeitlich nicht so ganz zuzuordnen: Teilweise die 1930iger Jahre Hollywoods zitierend, dann aber wieder ausgeflippt heutig (besonders gelungen in den schrillen Walküren-Outfits). Liebevoll und detailverspielt die Gewänder bei Fafner, dem Waldvogel und Erda. Ganz großes Kino – in wahrsten Sinn des Wortes – schuf Tobisch mit den japanischen Kampfkleidern in der Götterdämmerung. Aber auch bei den Kostümen stellt sich natürlich die Frage, ob Otto Normalverbraucher (und der Rezensent schließt sich da gerne an) nicht das eine oder andere Mal überfordert ist, um alle film- oder theaterhistorischen Bezüge erkennen und deuten zu können.
Kommen wir zum Musikalischen. Hier gab es für mich die eigentliche Überraschung. Ich muss gestehen GMDAntony Hermus vorher nicht gekannt zu haben, was der Niederländer aber mit der Anhaltischen Philharmonie Dessau hier an Klängen hervorzauberte, das war wunderschön und hatte hohes Niveau. Natürlich gab es bei diesem Monsteropus einzelne Holprigkeiten, aber insgesamt stimmte der „Sound“ im wahrsten Sinn des Wortes. Immer stärker wird meine Überzeugung, dass Wagner gerade in „kleineren“ Häuser imponierender wirken kann als an Met, Scala oder einer – wo immer befindlichen – Staatsoper. Und alleine die körperliche Leistung der Aktiven (ein Schichtplan oder ähnliches kam ja kapazitätsbedingt nicht in Frage) nötigte Respekt ab. Erleichterndes Detail: Für gewissen Instrumentengruppen standen in der Pause Masseure zur Verfügung! Dennoch war bei der finalen Götterdämmerung eine leichte Überforderung zu spüren: Die bis dahin perfekten Hornrufe misslangen ebenso wie auch bei den Trompeten Einbußen an Konzentration spürbar wurden.
Dass ein Haus wie Dessau für einen kompletten „Ring“ vier Hauptpartien aus dem aktuellen Ensemble (das gerade einmal acht Sänger umfasst) besetzen kann, erstaunte nicht wenig. Und diese waren auch die großen Pluspunkte in jeder Hinsicht, denn sie mussten über diese Rollen hinaus auch noch kleinere Partien mit übernehmen. Ulf Paulsen, der vor der Walküre zum Kammersänger ernannt wurde, stellte einen Wotan mit allen Schwächen und – trotz seiner Göttergestalt – menschlichen Regungen und Schwächen dar. Sein hell timbrierter Bariton passte ideal dazu, vielleicht wäre hie und da ein stärkeres Zurücknehmen angesagt gewesen, aber wer will schon mäkeln über diesen begnadeten Charakterzeichner. Jedes Detail, jedes Kopfschütteln und jede Mimik passten zu 100 %. Dass er am vierten Tag noch als Gunther ran musste, grenzte fast schon an künstlerischeAusbeutung. Ähnlich triumphal war die Zustimmung des Publikums für Rita Kapfhammer, die sage und schreibe fünf Partien absolvierte: Fricka an den ersten zwei Tagen, dann die Siegfried-Erda und schließlich noch Waltraute (mit der sie einen Meilenstein setzte), erste Norn undFloßhilde: Chapeau! Denn mit welcher Wortdeutlichkeit und frischer Stimme sie sich durch die Serie sang, das verlangte nicht nur Anerkennung, sondern machte dem Zuhörer auch akustisch die reinste Freude. Manch großes Haus könnte sich glücklich schätzen über so eine Mezzosopranistin zu verfügen. Angelina Ruzzafante (als Freia, Sieglinde, Stimme des Waldvogels und Gutrune zu hören) hatte ihrenstärksten Auftritt natürlich in der Walküre, in der sie eine sinnliche Sieglinde sang. Sehr berührend, wobei aber alle Anstrengungen ihrem Äußeren nicht anzumerken sind. Schließlich ist auch noch die am Haus so bewährte IordankaDerilova (sie sang vor 15 Jahren in St. Margarethen eine Abigaille in Nabucco) zu erwähnen, die dreimal als Brünnhilde auf der Bühne stand. Ihre Mittellage klang zwar anfangs immer etwas flackrig, sie punktet aber in weiterer Folge mit toller Höhe und darstellerisch gelang ihr eine sehr berührende Rollengestaltung. Ein so lyrisches „Starke Scheite schichtet mir dort“ hört man übrigens auch nur selten!
Von den Gästen wären in erster Linie die beiden Heldentenöre zu erwähnen. Als Siegmund verfügt Robert Künzli über eine sehr abgedunkelte Mittellage, die ich als „Kaufmann-like“ bezeichnen würde und die nicht unbedingt jedermanns Sache war. Aber ab den Wälserufen hatte er sich freigesungen und Höhenangst brauchte man bei ihm nie haben. Die Buh-Rufe beim Schlussvorhang waren gänzlich unberechtigt, verstummten aber sofort, als der Sänger gestenreich kundtat, was er davon hielt. Sehr tapfer schlug sich Jürgen Müller als Siegfried (in Wien sang er einst an der Volksoper den Evangelimann), auch wenn der eine oder andere Spitzenton nicht ganz saß, mit tollem Einsatz hielt er beide Abende souverän durch.
Bunt durcheinander ging es bei den Besetzungen der übrigen Partien, die Qualitätsabstufungen waren natürlich erkennbar, taten aber grossomodo nichts zur Sache. Versuchen wir es einmal so: Albrecht Kludszuweit waren die Partien des Loge und des Siegfried-Mime anvertraut, in beiden Fällen gelang ihm eine ideale Kombination zwischen dem geforderten parlando und seiner imposanten Tenorstimme, der Jubel über seine Leistung war hochverdient. Die tiefen Basspartien befanden sich bei Stephan Klemm sowie Dirk Aleschus in besten Händen. Dem eher heller timbrierten Klemm gelang es einen schwerverliebten Rheingold-Riesen Fasolt als auch die furchteinflößenden Negativ-Charaktere Hundingentsprechend glaubwürdig darzustellen, beim Hagen fehlte aber das Bedrohliche, der wirkte eher nachdenklich und zögernd. Die kernige Tiefe und die körperliche Statur des Zwei-Meter-Mannes Aleschus waren Garantie genug für einen mehr als soliden Fafner, bei seinem „Lasst mich schlafen“ blitzte auch sein immer präsenter Humor durch.
Ohne im einzelnen auf die restlichen Sänger singulär einzugehen verdienen sie ein Pauschallob: Stefan Adam (als Alberich in Rheingold und Siegfried lagen sein Stärken in der darstellerischen Leistung), Nico Wouterse (ein tiefschwarzer bedrohlicher Alberich in der Götterdämmerung), Javid Samadov (als witziger Donner), der am Haus beschäftigte David Ameln (als leichtgewichtiger Froh), Ivan Turšić (ein unauffälliger Mime in Rheingold) und Anja Schlosser (eine jugendliche Erda in Rheingold).
Bleiben noch die übrigen Walkürenpartien zu erwähnen, wobei mir der Blick ins Programm die Augen weit öffnete: Denn lediglich zwei Gastsängerinnen (EinatZiv als Helmwige und Gwendolyn Reid Kuhlmannals Grimgerde) mussten extern angefordert werden, die anderen Protagonistinnen kamen aus den eigenen Reihen: Cornelia Marschall(Ortlinde sowie Woglinde und dritte Norn) und – man höre und staune – die fünf Choristinnen (!) Gerit Hammer (Gerhilde), Anne Weinkauf (Waltraute sowie Floßhilde und zweite Norn), Kristina Baran (Siegrune), Jagna Rotkiewicz (Roßweißeund Wellgunde) und Constanze Wilhelm (Schwertleite) machten ihre solistischen Auftritte mehr als tadellos. Die leistungsmäßige Bandbreite musste bei so einer Zusammensetzung natürlich größer als sonst üblich ausfallen. Der grundsolide Opernchor des Anhaltischen Theaters wurde unterstützt vom Chor Coruso und einstudiert von Helmut Sonne.
Die 16 Minuten Schlussapplaus verteilte sich ziemliche gleichmäßig auf das gesamte Ensemble, auch das Leading Team stellte sich dem Publikum, bis auf ein schüchternes Buh (offensichtlich für die Regie) gab es aber auch da nur (verdienten) Jubel. Insgesamt also ein kräftiges Lebenszeichen des Anhaltischen Theaters und ein verdienter Erfolg seines Intendanten Andre Bücker und seines Teams. Wie sehr die einzelnen Wagner-Gesellschaften, die nach Dessau gekommen waren, meine Einstellung teilen, entzieht sich leider meiner Kenntnis.
Ernst Kopica