Foto aus dem Trailer
DESSAU: DER FREISCHÜTZ
10.2. 2019 (Werner Häußner)
An sich ist nichts dagegen einzuwenden, eine Oper als wirkkräftiges Bühnenstück ohne Subtext und Metaebenen zu erzählen. Wichtig dafür ist ein genauer Blick auf den Verlauf und die Motive der Handlung, auf die Seelenlagen und Antriebskräfte der Personen, auf den symbolischen Wert von Bildzeichen und Bühnenkonstellationen. Das Ganze aus Libretto und Musik als gleichwertigen Quellen entwickelt und mit einer lebendigen, spannungsvollen Regie umgesetzt – so können packende Abende auch jenseits von „Regie“- oder „Dramaturgen“-Theater entstehen, fern von postmoderner Dekonstruktion oder dem Heranziehen des Stücks als „Material“, das nach Überschreibung schreit.
Wenn jemand aber, wie Saskia Kuhlmann am Anhaltischen Theater in Dessau, im „Freischütz“ Carl Maria von Webers ein entscheidendes Motiv wie das der übersinnlichen Kräfte (weiße Rosen, Warnung des Eremiten, Freikugeln) schlicht eliminiert, den frommen Mann am Schluss unmotiviert wie den schlapphutbedeckten Wanderer aus einer modrigen Wagner-Inszenierung an den Rand des Orchestergrabens postiert und dann – Achtung, dominierender Regieeinfall! – die Ebene des Erzählens durch ein weißgewandetes Kind durchbricht, das den „Eremiten“ hinausführt, stellt sich die Frage, was denn nun konzeptionell beabsichtigt ist. Zumal weder die Bühne Dietrich von Grebmers noch die kräftigen Eingriffe in die Dialoge Aufschluss geben: die eine dekoriert nur, die anderen zerstören den inneren Sinnzusammenhang der Handlung.
Ein Fehlschuss also, an dessen Gelingen man in der Wolfsschlucht-Szene endgültig verzagt. Denn Saskia Kuhlmann und ihrem Bühnenbildner ist nichts eingefallen, was diesen Höhe- und Wendepunkt des Geschehens in irgendeiner Weise szenisch beglaubigen könnte. Es wird erst blau – aha, das blaue Licht kennen wir schon aus der Szene zwischen Max und Kaspar –, dann dunkel. Auf der Projektionsgaze vor der Bühne (Videos: Angela Zumpe) ist zunächst ein Schaf zu sehen: das Lamm der Unschuld? Das Schaf der Dummheit? Ein groß gewordenes Opferlamm? Ein Nachhall des Schlingensief’schen Hasen aus dem Bayreuther „Parsifal“?
Es darf gerätselt werden, denn das Tier spielt nie wieder eine Rolle. Und dann wird es noch dunkler, und über die Wand flimmern zur packenden Musik Webers wacklige Bilder: Stämme, Wald, ein dunkler Vogel, eine Sauhatz. Das Zählen der Kugeln tönt aus dem Off. Weder Kaspar noch Max sind sichtbar. Am Ende der Szene ist nur festzustellen: Mit den Flimmerbildern hat die Regie endgültig ihr Scheitern erklärt.
Man tritt dieser vergeblichen Weber-Bemühung wohl nicht zu nahe, wenn man ihr unterstellt, sich um die Bilder bemüht zu haben, die lediglich des deutschen Bildungsbürgers vage Assoziation mit diesem Stück bedienen. Schon die Eröffnungsszene legt das nahe: Der Chor drapiert mit Kostümen, die mal an ein undefiniertes Biedermeier der Weber-Zeit, mal an Kittelschützenmode der Nachkriegszeit erinnert. Katja Schröpfer überzieht die Farben mit aschgrauer Stumpfheit, flicht Blumenkränzchen ins Haar, dekoriert den Kaspar mit Dreadlocks und etwas kühnem Leder, das dann in der Kluft des säkularisierten Eremiten wieder auftaucht. Und der deutsche Wald reckt seine Stämme auf einer Art Fototapete im Hintergrund – so als ob dieses historische Interpretament heute noch irgendeine Bedeutung vermittelte. Wenn hier tiefsinnige Chiffrierung am Werk sein sollte: So etwas ist schon sinnenfälliger entwickelt worden!
Dann werden Hüte geworfen und Kränzchen geschwungen – und zum „Hehehe“ dürfen die Chordamen auch keck die Hüften schwingen. Die Verruchtheit nach Art der Fünfziger erreicht einen vorläufigen Höhepunkt, wenn zum „Hussa“ kühn die Humpen geschwungen werden und sich eine blonde Schankmaid alkoholisiert über eine Sitzbank wälzt. Das tut alles sehr realistisch, ist aber in Wahrheit nur abgestandenes Klischee. Selbstredend darf auch Ännchen ein dralles Hinterteil erotisch als Signalgeber für den „schlanken Bursch“ einsetzen, der vielleicht mal gegangen kommt, während sich die beiden Damen bedeutungsschwanger und ausführlich mit dem Verrücken des Urältervater-Porträts befassen. Agathe schleudert mal ihre Schuhe von sich, aber die Regie lässt sie genau als die dämliche Schnepfe erscheinen, als die sie 13jährige Pennäler empfinden, die mit deutscher musikalischer Romantik gelangweilt werden.
So ganz ohne Metaphysik geht’s dann doch nicht ab: Der Böse ist im Dessauer Falle eine samten eingehüllte Samielle mit verruchten roten Haaren, die nicht zum Kleid passen, und einem silberglitzernden Brustkorb. Constanze Wilhelm ist so attraktiv, dass nicht ganz verständlich ist, warum Kaspar sich die Frist noch einmal verlängern lassen will. Der sackt im Finale mit Herzinfarkt zusammen und folgt seiner Tödin, noch bevor ihn der Fürst als Scheusal in die Wolfsschlucht stürzen lassen kann. Am Ende widersteht Kuhlmann dem Mainstream heutiger Freischütz-Interpretationen und lässt es mal gut ausgehen: Agathe und Max strahlen Hand in Hand ins Publikum, während sich die Damen des Chores in der ersten Reihe brav hinknien. Sie hatten vorher schon in behaglicher Runde die dramatischen Ereignisse ohne erkennbare innere Rührung verfolgt.
Spannung und Dramatik bleibt also der Anhaltischen Philharmonie überlassen – und die Dessauer Musiker lassen sich von ihrem GMD Markus L. Frank nicht ergebnislos anfeuern. Die Ouvertüre beginnt gemessen im Tempo, aber nicht zäh; die Hörnerprobe wird bestanden. Der Beginn des Allegros gelingt sauber, die Klarinette beruhigt mit schönem, weitem Ton. Dann lässt Frank das Brio zünden. Die Wolfsschlucht-Musik mit ihren über die romantischen Klangerfindungen E.T.A. Hoffmanns, Louis Spohrs oder Giovanni Simone Mayrs hinausgehenden Überraschungen erklingt dramatisch geladen, drängend im Tempo, aber auch plastisch durchgestaltet.
Im tüchtigen Dessauer Sängerensemble sind keine Ausfälle zu melden, im Gegenteil: Auch die weniger hervortretenden Rollen wie Ottokar (Kostadin Argirov), Kuno (Cezary Rotkiewicz), Kilian (David Ameln) und der stimmlich satte, gerundete Eremit (Don Lee) sind ansprechend besetzt. Kammersängerin Iordanka Derilova singt – nach Riesenpartien wie Turandot und Brünnhilde – eine erstaunlich mädchenhafte Agathe, hat das Vibrato im Griff und überzeugt mit gelöstem Ton. Cornelia Marschall setzt auf bezaubernd kecke Agilität und leuchtende Höhe. Ulf Paulsen, ebenfalls wagnererfahrener Kammersänger, lässt sich vom Run durch die Register ebenso wenig erschüttern wie von der geforderten durchschlagenden Dramatik, die er allerdings mit zu viel Wagner-Aplomb realisiert.
Als Max war ein Gast zu erleben: Alexander Geller, ein vielseitiger Tenor, der u.a. in Mörbisch als Tassilo („Gräfin Mariza“) und in Graz als Caramello („Eine Nacht in Venedig“) zu erleben war, hat mit den Plattitüden der Regie kein Problem, mit den Anforderungen seiner Partie auch nicht: ein kräftiger, aber schlanker Tenor mit präsentem Ton und brillantem „squillo“, der auch die Dialoge einwandfrei artikulieren und gestalten kann. Sauber und klangsatt ebenfalls der Dessauer Chor („O lass Hoffnung dich beleben …“), selbst als sich die Jäger im letzten Akt ein wenig durch die Details mogeln. Auch wenn die Regie wacker dem Stücklein den Rest hat gegeben – der musikalischen Seite möchte man attestieren: Brav. Herrlich getroffen.
Werner Häußner