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David Edmonds: DIE ERMORDUNG DES PROFESSOR SCHLICK

14.05.2022 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

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David Edmonds
DIE ERMORDUNG DES PROFESSOR SCHLICK:
DER WIENER KREIS UND DIE DUNKLEN JAHRE DER PHILOSOPHIE
352 Seiten, Verlag‎ C.H.Beck, 2021 

Wahrscheinlich ist „Der Wiener Kreis“ heute nur noch Philosophie-Professoren und –Studenten ein Begriff, sowie Leuten, die sich explizit für dieses Thema interessieren. Die meisten Mitglieder des Kreises, der ab den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Welt der Philosophie so bedeutend war, scheinen in ihren Namen vergessen. Einer von ihnen wurde ermordet – eine Sensation anno dazumal… Lange ist es her.

Nun gibt es ein ursprünglich auf Englisch erschienenes Buch über den „Wiener Kreis“. Autor David Edmonds wird in seinem Wikipedia-Eintrag selbst als „Philosoph“ geführt und hat populäre Sachbücher zum Thema geschrieben („Wittgenstein’s Poker“). Wichtig ist seine Tätigkeit als „Radio feature maker at the BBC World Service“, was bedeutet, dass er schwierige Themen zugänglich aufbereiten kann. Und vor allem ist da eine Tatsache, die nicht in Wikipedia steht, aber in seinem Buch: Er hatte eine Wiener Großmutter namens Liesl Hollitscher, die an der Wiener Universität immerhin Rechtswissenschaft studiert hat – etwa zur gleichen Zeit, als die Mitglieder des „Wiener Kreises“ zusammen kamen. Diese teilweise wienerisch-jüdische Herkunft hat in David Edmonds offenbar jenes brennende Interesse an Wien, seiner Kultur, seiner Geschichte hervorgerufen, das nun in vielen Analysen Eingang in dieses Buch fand.

Vor allem aber geht es um die Männer, die sich zuerst noch vor dem Ersten Weltkrieg, dann richtig organisiert in den zwanziger Jahren (ab 1923 erst im Kaffeehaus, dann in einem eigenen Raum) zu einer philosophischen Interessensgemeinschaft zusammen fanden. Neu war ihr Ansatz als „Positivisten“ – sie alle kamen von der Naturwissenschaft her, waren vordringlich Mathematiker und Physiker, und fanden es an der Zeit, auch die Philosophie den Grenzen wissenschaftlicher Messbarkeit zu unterwerfen. Zweitausend Jahre Philosophie vor ihnen warfen sie gerne in den Orkus, weil ihnen die Sinnfragen, die Ethik-Diskussionen der Klassiker und der Frommen einfach sinnlos erschienen, sie nannten es glatt Unsinn.

Es war ein neues Kapitel, das sie in der Nachfolge von Ernst Mach aufschlugen, und David Edmonds widmet ihnen auch ausführliche Schilderungen als Menschen – der noble, zurückhaltende Moritz Schlick (einer der wenigen des Kreises, der kein Jude war!), der übersprudelnde Otto Neurath, der immer schüchterne Kurt Gödel, der wie Schlick aus Deutschland zugezogene Rudolf Carnap, der so streng auf die wissenschaftliche Analyse bestand, und viele andere mehr wie Hans Hahn, der Mann der ersten Stunde, Herbert Feigl, Friedrich Waismann oder Karl Menger. Ganz wichtig war auch der Beitritt des Briten A.J.Ayer zur Gruppe, der später den logischen Empirismus vehement in Oxford vertrat.

Sie blicken ungemein lebendig aus den Seiten des Buches, wie auch die „flankierenden“ Persönlichkeiten, die den Wiener Kreis (dessen Lieblings-Feindbilder Kant und in der Gegenwart Heidegger waren) befruchteten: vor allem Albert Einstein, den sie alle anbeteten, Bertrand  Russell, der ihnen manchen  Denkansatz vorgegeben hatte, und natürlich die Strahlefigur der damaligen Zeit, Ludwig Wittgenstein, den einige von ihnen heiß verehrten und andere ebenso tief verachteten (und dessen Theorien oft Gegenstand von Diskussionen waren), und schließlich Karl Popper, den Schlick nie zu den Sitzungen des Kreise einlud, weil er für dessen grobschlächtiges Benehmen nichts übrig hatte…

Wie Mosaiksteine fügt der Autor das Bild der Persönlichkeiten, ihrer Theorien und die Entwicklung des Kreises zusammen, wobei es durchaus nicht immer harmonisch zugehen musste. Dazu kommen lange und durchaus nötige Exkursen zu dem damaligen Wien samt Kaffeehaus und Stellung der Juden in der Gesellschaft, wie natürlich auch der turbulenten politischen Entwicklung der Zwanziger und Dreißiger Jahre.

Die Ermordung von Moritz Schlick auf den Stufen der Wiener Universität am 21. Juni 1936 sollte später oft als ideologisch-politischer Akt dargestellt werden. Tatsächlich war es eine ganz persönliche Geschichte. Johann Neböck, schwer gestörter Student von Schlick, eifersüchtig auf dessen angebliches Verhältnis mit einer Studentin, die Neböck, wie sie sagte, um Schlicks Willen abwies, nahm eines Tages die Waffe und schoß Schlick einfach nieder. Immerhin war er klug genug, zu behaupten, er hätte es getan, weil er Schlick für einen Juden hielt, und das gefiel den Austrofaschisten, die ihn nur ins Gefängnis schickten (auf Mord stand an sich die Todesstrafe). Mehr noch gefiel die Argumentation nach dem Anschluß den Nazis, die ihn auf freien Fuß setzten…

Da wurde die Situation für so gut wie alle Mitglieder des Wiener Kreises schon sehr gefährlich (Schlicks ehemalige Studentin, die spätere Schriftstellerin Hilde Spiel, sagte einmal, seine Ermordung  habe ihr klar gemacht, dass Österreich kein Boden war, wo man bleiben sollte). Die neue Ideologie wandte sich gegen die „zersetzende“ Tendenz des „jüdischen“ Wiener Kreises, man kehrte zur metaphysischen Betrachtung der Philosophie zurück, was leicht war, wenn die Juden erst aus der Lehre entfernt und dann ganz vertrieben wurden.

Gut das letzte Drittel des Buches schildert zahlreiche Emigrationsgeschichten, die alle tragisch anmuten, obwohl viele der Philosophen in England oder den USA Unterschlupf fanden, wo sie teilweise von nicht geringer Wirkung waren (wie das Buch „The Quartet“ über die Philosophinnen, die in Oxford gegen den Positivismus aufstanden, zeigt). Heute ist der „Wiener Kreis“ ein wichtiger Teil der Geschichte und der Entwicklung der Philosophie. Und hier ist er höchst lebendig auferstanden – zumindest für den interessierten Leser.

Renate Wagner

 

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