Modernes Musiktheater in Darmstadt: „Prometeo“ von Luigi Nono (Vorstellung: 17. 7. 2015)
Dirigent Johannes Harneit bei der Probe zur Luigi Nono-Oper „Prometeo“ (Foto: Michael Hudler)
Vorab ein Zitat des Komponisten Luigi Nono aus dem Jahr 1955: „Darmstadt è una necessitá“ („Darmstadt ist eine Notwendigkeit“).
Möglicherweise erinnerte sich das Staatstheater Darmstadt dieser Aussage des italienischen Komponisten und unternahm deshalb das schwierige Unterfangen, die Oper „Prometeo“ von Luigi Nono auf den Spielplan zu setzen, deren Uraufführung im Jahr 1984 in Venedig stattfand und die auf der griechischen Mythologie fußt. Prometheus, der Sohn des Titanen Iapetos, brachte den Menschen das Feuer, worauf er von Zeus an einen Felsen im Kaukasus gefesselt wurde, bis ihn Herakles befreite.
Der italienische Komponist Luigi Nono (1924 – 1990) entstammte einer venezianischen Künstlerfamilie. Er studierte in Venedig bei Gian Francesco Malipiero Komposition und absolvierte in Padua ein Jurastudium. Seine Musikausbildung setzte er 1946 bei Bruno Maderna und 1948 bei Hermann Scherchen fort, denen er die entscheidenden musikalischen Impulse verdankte. 1950 wurde seine Komposition Variazioni canoniche erstmals in Deutschland, und zwar in Darmstadt vorgestellt. Weltweite Aufmerksamkeit fand 1956 in Köln seine Kantate Il canto sospeso, die auf Texten verurteilter Widerstandskämpfer basiert. 1955 heiratete er Arnold Schönbergs Tochter Nuria und folgte stilistisch der Schule seines Schwiegervaters und der seriellen Technik. 1950 bis 1960 besuchte Nono die Darmstädter Ferienkurse, bei denen er ab 1954 auch unterrichtete. Später intensivierte er seine Lehrtätigkeit und leitete u. a. in Osteuropa und in Lateinamerika Kurse. Zu seinen bekanntesten „szenischen Aktionen“ zählen Intolleranza (Venedig 1961), die Abbado und Pollini gewidmete Al gran sole carico d’amore (Mailand 1975) und seine „Hör-Tragödie“ Prometeo (Venedig 1984), die nun in Darmstadt zur Wiederaufführung kam.
In seiner Vorankündigung schrieb das Staatstheater Darmstadt, das seine letzte Premiere dieser Spielzeit in die Sporthalle am Böllenfalltor auslagerte: „Wie klingt das Innere einer geheimnisvollen Arche, wie die Einsamkeit einer Insel, die leere, öde Weite einer Wüste? Wie kann uns das Hören Licht, Dunkelheit, Wärme, Angst, Gottverlassenheit spüren lassen? Der Titan Prometheus durchlebt ungeheure Gegensätze: Das Feuer, das er den Göttern raubte, um den Menschen das Licht von Wissenschaft und Kunst entdecken zu lassen, und die ungeheure Dunkelheit und Gottverlassenheit, in der ihn die Götter an den Kaukasus geschmiedet ausharren lassen. In seiner immer noch visionären, radikalen ‚Hör-Tragödie‘ lässt der große italienische Komponist Luigi Nono dieses Spannungsverhältnis mit Hilfe einer faszinierenden Raumklang-Konzeption tief beeindruckend Klang werden.“
So wurde also eine Sporthalle für vier Vorstellungen in eine Pilgerstätte für Fans von Neuer Musik verwandelt. Am Eingang zur Sporthalle wurde das Publikum mit einer Augenbinde ausgestattet und dann in kleinen Gruppen in den Saal geführt – auf Plätzen, die man im Verlauf des Abends wechseln musste, um das Klangerlebnis vielleicht an einer anderen Stelle noch intensiver auf sich einwirken lassen zu können. Dass die Klangeffekte tatsächlich verschieden ausfielen, ist der Verteilung des Chors, der Solisten und des Orchesters an fünf Spielorten zuzuschreiben (Einrichtung: Karsten Wiegand). Das Staatsorchester Darmstadt wurde von Johannes Harneit und zwei weiteren Dirigenten – Joachim Enders und Thomas Eitler-de Lint, der überdies den Chor einstudierte – geleitet.
Im Verlauf des knapp zweieinhalbstündigen Abends stellte sich einem die Frage, ob man sich in einem Konzert, in einem Theater mit Musik oder bloß in einer Halle mit einer Klanginstallation befindet? Und kommt zum Schluss, dass keine dieser Bezeichnungen zutrifft. Nicht umsonst hatte der Komponist seinem Werk den Untertitel Tragedia dell’ascolto verpasst. Also eine Tragödie des Hörens. In einem Gespräch vor der Vorstellung legte der Dirigent Johannes Harneit Wert auf die Feststellung, dass dieses Werk für ihn auf jeden Fall eine Oper ist.
Das Libretto stellte Massimo Cacciari nach Texten von Rainer Maria Rilke, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Friedrich Hölderlin und Hesiod zusammen.
Das stark geforderte Sängerensemble bestand aus zwei Sopranistinnen, zwei Altistinnen und einem Tenor. Die Sopranstimmen waren Aki Hashimoto und Christina Daletska, die beiden Altstimmen Tara Venditti und Annette Schönmüller, der Tenor Minseok Kim. Es war erstaunlich, wie des Öfteren von leisesten Pianissimo-Tönen, die kaum noch hörbar waren, zu extrem lauten Klängen gewechselt wurde, sodass sich manche Besucherin die Ohren zuhielt.
Als besonders stimmgewaltig erwies sich der Opernchor des Staatstheaters Darmstadt, der alle Grenzen des stimmlich Möglichen auszuloten schien. Zu erwähnen sind auch noch die Sprecherin Yana Robin la Baume und der Sprecher Samuel Koch, der gewiss vielen Fernsehzuschauern seit seinem tragischen Unfall bei einem Salto über Autos vor einigen Jahren bei der Fernsehsendung „Wetten, dass…“ bekannt ist.
Für das Raumklangkonzept und die live-elektronische Realisierung der Aufführung zeichnete das Experimentalstudio des SWR (Reinhold Braig, Michael Acker und Joachim Haas) verantwortlich.
Nicht selten schloss ich in einem Konzert oder in einer Opernaufführung mit kaum anzuschauender Inszenierung die Augen und schlief prompt ein, diesmal aber passierte mir dies trotz der Augenbinde in keiner Minute. Es war eine erstaunlich faszinierende, oft klangrauschhafte Vorstellung, die dem Publikum gewiss lange Zeit in Erinnerung bleiben wird.
Zum Schluss minutenlanger, nicht enden wollender Applaus des begeisterten Publikums, das jeden einzelnen Solisten – Sänger, Sprecher, Dirigenten –, aber auch die Chor- und Orchestermitglieder mit Bravorufen bedachte.
Udo Pacolt
PS: Ein besonderes Lob verdienen die Organisatoren, die alle Besucherinnen und Besucher mit Mineralwasserflaschen versorgten! Es war eine selten schweißtreibende Aufführung nicht nur für die Mitwirkenden in der Sporthalle – fast jeder im Publikum fächerte sich verzweifelt Luft zu und alle freuten sich über die Wasserflasche.