Dan Jones
MÄCHTE UND THRONE
Eine neue Geschichte des Mittelalters
800 Seiten, Verlag C.H.Beck. 202
Vor etwa zwei Jahrzehnten war es Mode zu behaupten, das Mittelalter sei erfunden, mindestens drei Jahrhunderte daraus habe es nicht gegeben. Man wollte es nicht glauben und wendet sich lieber Dan Jones zu. Dieser hat schließlich mit seiner Geschichte der Templer und der Englischen Rosenkriege schon bewiesen, dass er sich in dieser Epoche auskennt.
Seine „neue Geschichte des Mittelalters“ unternimmt nun nicht weniger als einen Parforceritt durch eine Epoche, mit deren Definition sich Historiker bis heute schwer tun. (Es fehlen bei der Betrachtung von Jones übrigens keine Jahrhunderte, im Gegenteil, alles ist voll gepackt mit „Geschichte“).
Was ist also das „Mittelalter“? Ein wenig Freiheit in der Datierung hat man schon, um jene lange, mehr als tausendjährige Zeitspanne zu begrenzen, die in etwa mit dem Zerfall des Römischen Weltreichs beginnt und für Dan Jones mit der Reformation endet, die die damalige Welt so erschüttert hat wie einst der Wegfall des gewaltigen Römischen Reichs als Machtfaktor.
Dabei holt Dan Jones, der „ca. 410″ als Anfangsdatum seiner Betrachtung nennt (da war die Völkerwanderung schon im Gange) noch weiter aus, blickt zurück bis Julius Caesar und Augustus. Tatsächlich hat man es mit eineinhalb Jahrtausenden zu tun, die er auf knapp 800 Seiten aufblättert. Ein langer Marsch durch die Geschichte.
Es sei aber gleich gesagt, dass der Autor es dem Leser programmatisch nicht schwer machen möchte. Hier schreibt kein Wissenschaftler für seine Kollegen, sondern ein erzählender Historiker für seine interessierten (und am besten schon ein wenig vorgebildeten) Leser. Er sagt es selbst im Vorwort: „Ich kann nur sagen, dass ich mit all meinen Büchern das Ziel verfolge, meine Leser nicht nur zu informieren, sondern auch zu unterhalten. Wenn dieses Buch ein bisschen von beidem schafft, würde mich das sehr freuen.“ Man kann nur sagen, es ist ihm gelungen.
Das hat auch damit zu tun, dass er seinen Stoff, den er über Europa hinaus betrachtet, so übersichtlich gliedert wie nur möglich. Es gibt vier große Kapitel – das erste behandelt das Ende des „klassischen“ Rom, den Überfall der „Barbaren“ (für die Attila steht), den Superstaat Byzanz, blickt zu den Arabern hinüber. Teil 2 hält sich bei den Franken ebenso auf wie bei den Wikingern, bei König Artus und den Klostergründungen, beendet mit den Kreuzfahrern eine religiös überhitzte Epoche. Teil 3 erzählt von Dschingis Khan und den Mongolen als neuer Supermacht, und der vierte Teil, den er schließlich bis 1527 führt, klopft schon an die Tür dessen, was andere als Neuzeit bezeichnen – Columbus (inmitten anderer Seefahrer) und die Protestanten sind für ihn da die zentralen Punkte seiner Betrachtung. Am Ende steht für Jones der „Sacco di Roma“ von 1527, denn nichts konnte seiner Meinung nach den Wandel der Zeiten exakter definieren als die Plünderung der Stadt des Papstes durch die Heere eines allerchristlichsten Königs…
Das Buch heißt „Mächte und Throne“, sprich: Politik, aber der Autor weiß, dass sich die Geschichte der Menschen nicht ohne Wirtschaft, nicht ohne das Fortschreiten des Wissens, nicht ohne Religion erzählen lässt. Dem entsprechend erhalten „Kaufleute“ oder „Gelehrte“ ihre eigenen Schwerpunkte. Diese Gliederung in Unterkapitel ermöglicht es auch, in einzelne Passagen hinein zu fallen, wenn man gerade daran interessiert ist. Dass jede Auswahl innerhalb einer so gewaltigen Stoff-Fülle individuell sein muss, dass dem einen oderen anderen Leser das eine oder andere fehlen wird, ist nicht zu vermeiden.
Man sieht, Dan Jones hat viele Bücher in einem geschrieben, fast jedes seiner Kapitel, die in einander überfließen (so, wie es die Zeit und Menschenleben tun), war anderen Kollegen ein eigenes Werk wert. Er versucht weniger den Überblick, als die große Entwicklung einer Periode, die im Grunde zu vielfältig ist, um sie mit einem Begriff zusammen zu fassen. Apropos Begriffe: Dan Jones ist ein Mann von heute, darum kann er auch von „Wokeness“ im Mittelalter sprechen – wobei er auf Meinungsdiktate von Klöstern und Universitäten und auf Abweichler eingeht.
Das Buch ist ein Wälzer, auch optisch nur durch seine Kapitel und Zwischenkapitel gegliedert, geschmückt mit zwei farbigen Bildteilen, die auf Highlights der Epoche verweisen. Wer immer sich für das Thema interessiert, bekommt hier reiches Material zum Nachlesen und Nachdenken.
Renate Wagner