Christopher Long:
DER FALL LOOS
192 Seiten, Amalthea Verlag, 2015
Es war so, es ist so, es wird immer so sein: Zeitgenossen, die in der allgemeinen Gunst stehen, können sicher sein, dass ihre Verfehlungen unter den Tisch gekehrt werden, während man jenen, die sich nicht des allgemeinen Wohlwollens erfreuen, gar nicht genug ans Zeug flicken kann. Wie entzückt ist doch die Nachwelt über die „Mäderl“-Geschichten des Peter Altenberg und blickt wohlwollend auf seine private Bildersammlung von diesen – was er in seinem Graben-Hotel getrieben hat und dass er mehrfach auf die Baumgartner Höhe eingeliefert wurde, wegen einer Krankheit, die man heute „Sexsucht“ nennt, wird verschwiegen. Der Pornographie-Prozeß, den man Egon Schiele machte und der uns heute so empört, traf keinesfalls einen Unschuldigen.
Und dass Adolf Loos, Wiens Parade-Architekt, die flammende Antwort auf die Exzesse des Historismus, 1928 der Prozeß als Kinderschänder gemacht wurde – wer weiß schon davon? Die Mitwelt hat dafür gesorgt, dass er als unschuldig Beschuldigter dastand. Und wenn Christopher Long, Professor für Architektur- und Design-Geschichte in Austin, Texas, sich nun dem Thema nähert – die Resonanz ist auch heute nicht groß. Doch denken wir, welchen Skandal man noch posthum erzeugen könnte, träfe es eine weniger sakrosankte Gestalt – zumal wir ja in Sache „Kinderschändung“ zu Recht übermäßig sensibilisiert sind, weil das Verbrechen so häufig und so schrecklich üblich ist… So sehr, dass man es einem „Promi“ nachsehen kann? Wohl kaum.
1928 waren die ideologischen Spannungen, auch in den einander bekämpfenden Druck-Medien, groß genug, um den Loos-Skandal nicht gänzlich zu verschleiern. Dass er zehnjährige Mädchen als „Modelle“ ins Atelier gelockt und sich ihnen unter dem Vorwand von Aktzeichnungen „unsittlich“ genähert hat, ging allerdings in einem Strudel von Aussagen, Gegenaussagen und heftigen Verleumdungsunterstellungen unter. Hätte man bei Loos nicht eine erkleckliche Sammlung von Porno-Fotos gefunden, die Sache wäre vermutlich nie vor Gericht gekommen – bei einer Persönlichkeit von seinem Ansehen. Er kam auch gegen Kaution aus der Untersuchungshaft frei und fand engagierte Verteidiger mit teils großen Namen, etwa Alfred Polgar.
Der Autor untersucht auch den Wiener Kult um das „süße Mädel“ (die Bezeichnung hat Arthur Schnitzler in seinen „Anatol“-Einaktern gefunden), der die Schuld diesen „armen“ (sozial, ökonomisch armen) Geschöpfen zuschob, die zur Verbesserung ihrer finanziellen Lage angeblich zu allem bereit waren. Wo verlief da die Linie zum Missbrauch, wenn man Entschuldigungen für die feinen Herren suchte?
Adolf Loos wurde jedenfalls von der Anklage, dass er „Mädchen unter 14 Jahren zur Befriedigung seiner Lüste geschlechtlich missbrauchte“ freigesprochen. Die vier Monate, die er dafür bekam, dass er halbe Kinder nackt in unzüchtigen Stellungen posieren ließ, wurden ausgesetzt. Schwamm darüber, Gras darüber wachsen lassen?
All das ist geschehen, und selbst Autor Christopher Long, der alles, was er schreibt, sorglich belegen kann, gibt zu, dass diese Geschichte „nicht angenehm“ ist. Er hat im Grunde nur eine wissenschaftliche Lücke zum Thema Adolf Loos schließen wollen, weil das Geschehen so nachdrücklich vertuscht wurde.
Für die Nachwelt kann an der „Schuld“ von Loos, so, wie wir es verstehen, kein Zweifel bestehen. Aber auch das Lückenschließer-Buch, das hier vorliegt, wird an seinem Glanz und seiner Glorie kaum kratzen. Manche dürfen eben mehr als andere…
Renate Wagner