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Christian Merlin: DIE WIENER PHILHARMONIKER

15.04.2017 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Die Wiener Philharmoniker. Das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute

Christian Merlin:
DIE WIENER PHILHARMONIKER
Band 1: Das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute. 368 Seiten
Band 2: Die Musiker und Musikerinnen von 1842 bis heute, 272 Seiten
Amalthea Verlag, 2017

175 Jahre ist ein etwas „buckliges“ Jubiläum, aber es war Arbeit zu leisten, und der französische Journalist und Wissenschaftler Christian Merlin hat es getan, obwohl er gerne einräumt, wie viel in Sachen Wiener Philharmoniker schon geschehen ist: Clemens Hellsberg hat systematisch die Archivbestände des Orchesters aufgearbeitet, Oliver Rathkolb die NS-Zeit erforscht. Warum noch ein Buch? Weil Christian Merlin (dessen Werk im Original auf Französisch erschienen ist) einen neuen Aspekt wählt.

Dass er für sein Buch über das Orchester zwei Bände benötigte, liegt am Konzeptionellen: Der erste Band, gewissermaßen das Lesebuch, behandelt das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute. Band 2 ist quasi ein Lexikon, listet alphabetisch die „Musiker und Musikerinnen von 1842 bis heute“ auf, wobei die Biographien unterschiedlich lange ausfallen, je nach ihrer Stellung im Orchester.

Tatsächlich geht es in seinem Werk grundsätzlich um den „menschlichen Faktor“, um das Wissen, dass ein Orchester, so sehr es auch als Einheit, als „Klangkörper“ begriffen wird, doch aus Einzelpersönlichkeiten besteht.

Autor Merlin geht im ersten Band auf 368 Seiten nun die Geschichte des Orchesters an – wobei er jede strukturelle und historische Entwicklung an Menschen aufhängt. 1842 begann es – Otto Nicolai, ein Preuße, schuf das Österreichischste aller Orchester, weil es in Wien außer dem Hofopernorchester nur die Privatorchester der Adeligen gab, aber keine Klangkörper, die den reichen Bedarf der Stadt nach aktivem Konzertleben befriedigen konnten. 64 Mitglieder waren es schon beim ersten Auftreten am 28. März 1842, die sich aus den Musikern der Oper zusammensetzten, um ein professionelles Konzertorchester zu bilden – seither gab / gibt es 851 Philharmoniker, zu denen sich spät, aber doch (genau: 1997, also vor 20 Jahren) auch Frauen gesellten, nachdem der Männerclub, Männerbund sich lange verschlossen gehalten hatte: Heute sind 11 der 142 Mitglieder Musikerinnen.

Merlin erzählt eine Geschichte von Menschen, die sehr persönlich ist. Dass bei der Besetzung von Positionen Beziehungen, genau gesagt Familienbeziehungen eine große Rolle spielten, ist übrigens ein durchgehendes Motiv in der Orchestergeschichte: Bisher gab es 36 Väter-und-Söhne bei den Philharmonikern, auch Enkel sind zu verzeichnen – da hilft dann der zweite Band, wo man beim Schmökern der Biographien auf zahlreiche dieser Konstellationen trifft. Musikalität vererbt sich ja bekanntlich, und gute Beispiele machen Schule und machen Musiker…

Merlin betont auch, dass die Wiener Philharmoniker in der Zeit der Monarchie ein multi-ethnisches Orchester waren (wobei der Anteil der Juden überproportional groß war), dazu Böhmen, Ungarn, Mähren, Slowaken, Kroaten, Russen, Italiener, wenn auch in einem geringfügigen Prozentsatz. Der 1868 neue ungarische Konzertmeister Jakob Grün erhob sich bei seinen Soli, wie es in Ungarn üblich war, worauf Erster Konzertmeister Josef Hellmesberger (nicht nur für den Klang seiner Geige, sondern auch für spitze Bemerkungen berühmt) meinte: „Wären Sie lieber sitzen geblieben und hätten das Solo stehen lassen…“

Wesentlich für die Geschichte der Wiener Philharmoniker, die für ihren spezifischen Klang berühmt wurden, war auch die Tatsache, dass ein Großteil der neuen Mitglieder von Philharmonikern als ihren Lehrern ausgebildet wurde. Und natürlich war das Orchester auch von bedeutenden Leitern abhängig: 1875 wurde Hans Richter (der als Hornist im Orchester begonnen hatte und für Richard Wagner ein so wichtiger Mitarbeiter wurde) zum Leiter der Abonnementkonzerte gewählt, was er fast ein Vierteljahrhundert ausübte. Brahms, Bruckner und natürlich Wagner, für den Richter glühend eintrat, erregten damals das Wiener Publikum zur Weißglut.

Die Zeit schritt fort, Josef Hellmesberger jr. war nach Großvater und Vater schon die dritte Generation in seiner Familie, die für die Wiener Philharmoniker unerlässlich wurden (einer seiner Schüler war übrigens Fritz Kreisler), der Name Arnold Rosé ist eng mit Gustav Mahler verbunden, der 1897 die Hofoper und 1898 die Leitung der Philharmonischen Konzerte übernahm und auch hier seine gnadenlosen Reformen durchziehen wollte, aber nicht ganz so erfolgreich war wie in der Oper… Immerhin kamen unter ihm viele „internationale“ Musiker, vor allem Deutsche (auch Niederländer und ein Grieche), in das Orchester, nicht nur Bürger der Monarchie. Inzwischen erzählt Christian Merlin, der auch Musikwissenschaftler ist, vieles über Instrumentengruppen und ihre Entwicklungen (etwa die Erfindung der Wiener Pauke – alles hing immer mit Einzelpersonen zusammen).

Man kann sich über Namen durch die Geschichte arbeiten – Franz Schalk, Ricardo Odnoposoff (der den Nationalsozialismus überlebte, eine Solistenkarriere machte und heute auf dem Grinzinger Friedhof ruht), Willy Boskovsky, Clemens Krauss, Namen, die noch jeder Musikfreund kennt.

Ein großes Kapitel widmet Merlin selbstverständlich der Zeit des Nationalsozialismus, die auch das Orchester nicht mit sauberen Händen überlebte – jüdische Mitglieder wurden zwangspensioniert, darunter Mahler-Schwager Rosé. Ihm gelang die Flucht, andere jüdische Orchestermitglieder starben in Konzentrationslagern. Es sind tragische Schicksale, die sich gerade in diesem Kapitel entrollen, und Merlin erzählt sie sachlich, ohne Beschönigung, wobei auch die Nachkriegszeit noch ihre schweren Krisen hatte, für die Menschen und das Orchester als Institution: Das „Aufräumen“ der Vergangenheit war hier so problematisch wie im ganzen Land.

Langsam arbeiteten sich die Philharmoniker auf ihre neuen Glanzzeiten zu, die im Grunde bis heute anhalten – nicht zuletzt durch das Neujahrskonzert, das seit 1959 im Fernsehen übertragen wird und damit Wien, dem Orchester und dem Goldenen Saal des Musikvereins eine Publicity ohnegleichen beschert. In der Wiener Staatsoper war die Ära Herbert von Karajan auch für das Orchester von besonderer Bedeutung. Es gab Probleme und Affären aller Art (beispielsweise Fagottist Rudolf Hanzl, der von 1947 bis 1953 Vorstand war und 1964 mit Millionenschulden und seiner Verhaftung das Orchester in schwere Verlegenheit brachte).

Von Bedeutung war die Wahl der jeweiligen Dirigenten für die Konzerte, deren Programme, neue Mitglieder – und natürlich die „Frauenfrage“. Die Berliner Philharmoniker hatten sich schon 1982 entschlossen, Frauen ins Orchester aufzunehmen, die Wiener brauchten erheblich länger. Die Öffnung in die Welt fand nicht nur in Gastspielreisen, sondern auch in den eigenen Reihen statt: 2016 stammten ein Drittel der Musiker – zwei Drittel gebürtige Österreicher – aus immerhin 22 Nationen. Nur die Qualität entscheidet.

Mit wenig mehr als einer Erwähnung nebenbei behandelt Merlin übrigens die Intrigen von Staatsopern-Direktor Ioan Holender, der das in der Staatsoper allabendlich aufspielende Orchester streng von den Wiener Philharmonikern trennte, was schon faktisch nicht stimmte…

An Kalamitäten, Aufregungen, Problemen hat es nie gefehlt. Doch dieses Dinge bleiben – wenn man sie nicht wie jetzt zwischen Buchdeckeln liest – im allgemeinen der Öffentlichkeit verborgen. Nach außen drang und dringt der Glanz des Orchesters, seiner Konzerte und wie er, viel bejubelt, aus dem Graben der Staatsoper erklingt. Und so soll es sein. Musikfreunde allerdings, die es genauer wissen wollen, erfahren hier viel Neues.

Renate Wagner

 

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