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CHEN REISS – „The pace of Vienna is music.“

21.02.2018 | Allgemein, Sänger

Chen Reiss: „The pace of Vienna is music.“
(in etwa: Das Tempo von Wien ist Musik.)

Februar 2018/ Renate Publig


(Chen Reiss © Paul Marc Mitchell

In der kommenden Premiere der Wiener Staatsoper steht erstmalsGeorg Friedrich Händels Oper „Ariodante“ auf dem Spielplan steht, die Sopranistin Chen Reiss übernimmt die Partie der Ginevra. Im Interview – welches sie in makellosem Deutsch gab! – sprach sie über die Produktion sowie buchstäblich über „Gott und die Welt“. (Der Titelsatz war ihr einziges englischsprachiges Zitat, gibt jedoch so treffend ihren Bezug zu Wien wider.)

Frau Reiss, die Vorbereitungen zur Premiere von „Ariodante“ sind voll im Gange – wie laufen die Proben?

Sehr gut! David McVicar bietet eine visuell traditionelle Inszenierung, die Personenführung hingegen ist äußerst dramatisch, ein psychologisch komplexes Geflecht!Heute findet die erste Probe mit Orchester statt, worauf ich mich besonders freue, weil die Energie, die Klangfarben noch einen zusätzlichen Schub geben. Händel konnte hervorragend orchestrieren, und das Klangspektrum von Les Arts Florissantes ist fantastisch!

„Ariodante“findet man selten auf denSpielplänen, an der Wiener Staatsoper wurde das Werk bisher noch nie aufgeführt!

Einige Opern von Händel sind weniger spannend, weil so viel gleichzeitig passiert, das macht die Handlung etwas verwirrend. Das gilt nicht für „Ariodante“! Meiner Meinung nach zählt diese Oper mit ihrer hervorragenden Geschichte, dem ausgefeilten Libretto zu den besten Werken von Händel!

Wie würden Sie Ihre Rolle, die Ginevra beschreiben? Der Königstochter wurde ziemlich übel mitgespielt!

Ginevra ist in diesem Stück ein Opfer, sie repräsentiert die Frauen in dieser Zeit – ohne Macht, ohne Rechte, die Männer entscheiden über ihr Schicksal. Ihr wird zu Unrecht Untreue vorgeworfen, und weder ihr Vater, noch ihr Verlobter Ariodante fragen sie nach ihrer Version der Geschichte. Sie wurde hereingelegt, dennoch wird ihre Schuld automatisch angenommen.

Komponisten wie Verdi oder Puccini hätten aus diesem Opernstoffwahrscheinlich eine Tragödie geschaffen – bei Händel endet das Stück gut.

Stimmt, bei Verdi hätte man Ginevra sicherlich enthauptet. Bei Händel kommt die Wahrheit rechtzeitig ans Tageslicht:Der totgeglaubte Ariodante taucht plötzlich auf underfährt vonDalinda von Ginevras Unschuld. Weil Ginevra aus der Königsfamilie stammt, gingen die Männer den Anschuldigungen nach und decken das Komplott auf. Wieder hat Ginevra keine Macht, sie rettet sich nicht aus eigener Kraft! Die heutige Relevanz dieser Oper besteht darin, dass sie aufzeigt, wie Frauen in manchen Ländern immer noch behandelt werden.

David McVicar entwickelt ein spannendes Regiekonzept, das Publikum wird auf die Sesselkante rücken, um die Handlung zu verfolgen! In dieser Oper gibt es keinen schwachen Charakter, jeder kämpft für das, woran er glaubt. McVicar zeigt auch Ginevra nicht als schwache Frau, denn das ist sie nicht, sie hat bloß keine Macht! Sie ist leidenschaftlich, sie ist eine Prinzessin, die sich durchaus wichtig nimmt. Die Beziehung Vater – Tochter wird sehr feinfühlig aufgezeigt.

Sie deuteten an, dass das Regiekonzept Traditionelles aufgreift?

Die Balletteinlagen in dem Stückspiegeln das Konzept der Inszenierung wider, es enthält klassischeTanzszenen mitSarabanden und Gavotten, kombiniert mit modernen Elementen. Und dann verwandelt sich die Szene in, was man dann sieht, spielt sich nur in Ginevras Psyche ab, es stellt sich heraus, wie deformiert und krank die Wirklichkeit ist.

A propos Tanzeinlagen – eigentlich wollten Sie Tänzerin werden – wie kamen Sie zum Gesang?

Mit 8 Jahren begann ich zu tanzen, ich spielte auch Klavier. Meine Mutter ist Opernsängerin, ich bin damit aufgewachsen, deshalb wollte ich sowohl tanzen als auch singen!Für das Schauspielen erweist sich ein ausgeprägtes Körperbewusstsein als äußerst hilfreich.
In „Ariodante“ bekomme ich übrigens oft die Gelegenheit zu tanzen. Und auch sonst kommt mir das Tanztraining zugute: Wir tragen Korsettkleider, das verändert die Körperhaltung, die Bewegungen, sogar das Verbeugen!


(Chen Reiss in „L’Elisir d’amore“ © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn)

Sie debütierten 2009 an der Wiener Staatsoper als Sophie und sangen seither Rollen wie Pamina, Elvira, Zdenka, Adina, Servilia, Gretel, Füchslein Schlaukopf und vieles mehr. Ihrem Stimmfach entsprechend finden sich also viele romantische Partien darunter – etwas, dass Ihnen persönlich entspricht?

Mein Mann würde das verneinen, weil ich oft sehr ernst und nachdenklich bin. (lacht) Ich versuche jedoch mehr und mehr, Romantik in meinem Leben zu integrieren. Die Oper bringt uns viel Liebe und Romantik! Es ist sehr einfach, sich dem Stress hinzugeben, doch die Musik bringt uns wieder Leichtigkeit. In Wien erlebe ich das besonders, da bin ich wesentlich ruhige, weshalb ich diese Stadt so sehr liebe. Die Stadt ist langsamer als New York, London oder Tel Aviv. Die Wiener sehen das vielleicht nicht so, aber in Wien kann man wenigstens noch Autofahren – was man nicht einmal muss, denn in Wien kann man vieles zu Fuß erreichen. Die Menschen in Wien strahlen viel mehr Ruhe aus – da fällt es viel leichter, romantisch zu sein! „The pace of Vienna is music.“ (Das Tempo von Wien ist Musik.) Mittlerweile lebe ich aufgrund meines Residenzvertrages drei Monate in Wien, ansonsten bin ich in London oder in New York – und hauptsächlich im Flugzeug, kommt mir vor! (lacht)

Im Alter von 18 Jahren mussten Sie zum Militärdienst, den Sie beim Militärorchester absolvierten.

Ich bestand zum Glück das Vorsingen, sonst hätte mein Militärdiensteinen komplett unterschiedlichen Verlauf genommen. Üblicherweise dauert der Dienst zwei Jahre, aufgrund eines Engagements im Nationaltheater in Israel wurde mein Dienst auf 1 1/2 Jahre verkürzt.
In dieser Zeit hatte ich viel gelernt! Ich sang jeden Tag mit dem Orchester, in den unterschiedlichsten Stilen, sogar Edith Piaf oder Jazz, Musicals, israelische Musik. Aber natürlich auch Klassik. Dadurch konnte ich sehr fundierte Erfahrungen im Zusammenspiel mit einem Orchestergewinnen.

Dank der Musik also eine gewinnbringende Zeit?

Die ersten drei Wochen hatten nichts mit Musik zu tun, da machten auch wir Grundausbildung, wir lernten den Umgang mit Waffen, mit Gasmasken, es gab viele körperliche Übungen. Man singt in Uniform, ich musste ein paar Mal in der Woche die Kaserne bewachen – es gibt keine Freiheiten, sondern es wird höchste Disziplin verlangt, inklusive Probenbeginn um 7 Uhr 30.

Außer Ihrem umfangreichen Opernrepertoire singen Sie oft geistliche Musik. 2014 sangen Sie vor Papst Franziskus die Weihnachtsmesse – ein besonderer Moment?

Absolut. Er ist ein unglaublich energetischer und charismatischer Mensch, der eine besondere Wärme und Herzlichkeit ausstrahlt. Im Vatikan Mozart zu singen, war ein unglaubliches Gefühl. Es hörten so viele Menschen zu, das Konzert wurde übertragen … da klopfte das Herz sehr laut! Dennoch habe ich es genossen.

Sind Sie ein gläubiger Mensch?

Nicht in dem Sinn, dass ich in die Kirche oder in die Synagoge gehe. Aber ich glaube an das Mitgefühl, die Großzügigkeit, die Toleranz der Menschen. Ich glaube an eine höhere Macht, an die Macht der Musik, der Liebe. Auch wenn ich manchmal Angst bekomme, wenn ich die Nachrichte lese … Aber ich glaube, dass wir das alles überstehen werden.

Man sagt ja, dass Musik die beste Medizin ist … professionelle Sänger sehen das vielleicht differenzierter?

Der Sängerberuf ist komplex, es gibt viele schwierige Momente, die nichts mit Zauber zu tun haben. Man muss immer gesund bleiben, dabei fährt man mit der U-Bahn, ich habe zwei kleine Kinder; und wir sind einem hohen Stresslevel ausgesetzt. Das Zusammenarbeiten mit Agenturen, die PR – der ganze Zirkus, den es früher nicht gab! Wenn man heute in einer Stadt singt und dies nicht twittert, weiß niemand davon! Die Künstlerwelt hat sich stark verändert.
Doch dann kommt der Moment, wo es auf die Bühne geht – und da setzt der Zauber ein. Dafür lebe ich! Da vergisst man das Leben rundherum – ich bin Mutter, Ehefrau – aber auf der Bühne bin ich jetzt Ginevra.

Das Leben rundherum – wie verbringen Sie den Tag einer Aufführung?

Ich stehe später als gewöhnlich auf, frühstücke ausgiebig, koche das Mittagessen – das macht mich ruhig. Oft lese ich ein Buch, nachmittags verbringe ich gerne Zeit mit den Kindern, ich versuche nicht zu viel zu sprechen, trinke viel – Aufführungstage sind etwas Besonderes!

Kommen Ihre Töchter mit in die Oper?

Die jüngere Tochter ist erst 2 ½, sie ist auch ein bisschen wie ein Bub, sie mag nicht ruhig sitzen. Sie war daher noch nie in einer Vorstellung. Die größere ist vier, sie hat schon „Hänsel und Gretel“ gesehen, und „Das schlaue Füchslein“ und die Kinder-Zauberflöte. Die Große war auch schon bei der Probe und liebt Musik! Gemeinsam, auch mit der kleineren Tochter, hören wir viel Musik.

Und in Ihrer Freizeit?

Da versuche ich, besonders auf gesunde Ernährung zu achten. Und zu entspannen, wir fahren gerne ans Meer, an den Strand, ich brauche die Sonne!

Frau Reiss, vielen Dank für das Gespräch und toi, toi, toi für die Aufführung!

 

 

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