Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD VISSARION SHEBALIN: Orchesterwerke, Vol. 2 – DMITRY VASILIEV dirigiert das Sibirische Symphonieorchester; Weltersteinspielungen; Toccata Classics

05.03.2020 | Allgemein, cd

CD VISSARION SHEBALIN: Orchesterwerke, Vol. 2 – DMITRY VASILIEV dirigiert das Sibirische Symphonieorchester; Weltersteinspielungen; Toccata Classics

Shostakovich‘ Leben und Schaffen gilt vielen als Synonym für das extrem schwierige und dennoch äußerst fruchtbare musikalische Leben in der Sowjetunion: Unfassbares Genie, ärgste Repressionen, Aus- und Umwege, eventuell späte weltweite Anerkennung. Es gab damals talentierte wie meisterliche Musiker, Lehrer und Komponisten, die von ihrer Kreativität her unsere Aufmerksamkeit verdienen, wie etwa der von Shostakovich hoch geschätzte, aus Omsk stammende Vissarion Shebalin.

Shebalin besuchte die Kompositionsklasse von Nikolai Miaskovsky und war selber sechs Jahre lang Direktor der Fakultät für Komposition am Moskauer Konservatorium. Unter seinen Schülern finden sich heute so illustre Namen wie Edison Denisov, Sofia Gubaidulina oder Boris Tchaikovsky. 1948 ereilte Shebalin das Schicksal so manch Missliebigem, als er nach dem Moskauer Komponistenkongress wegen formalistischer Umtriebe aus dem Konservatorium flog und nur noch Theorie für Kapellmeister (Militär) unterrichten durfte. Die Rehabilitierung drei Jahre später kam spät, weil Shebalin ab 1953 eine Reihe von Schlaganfällen erlitt. Trotz einer halbseitigen Lähmung der rechten Körperhälfte setzte er seine Kompositionsarbeiten bis zu seinem Tod 1963 mit Hilfe seiner Frau Alisa Maximovna fort.

Im Zentrum des Schaffens von Shebalin stehen die Oper „Der Widerspenstigen Zähmung“, fünf Symphonien, neun Streichquartette und ein Violinkonzert, ferner Lieder, Chorwerke und das Ballett „Die Lerche“.

Auf der vorliegenden CD sind erstmals die dritte und vierte Orchestersuite sowie eine Ballettsuite zu hören. Die ersten beiden Orchestersuiten entstanden in den dreißiger Jahren und wurden von Shebalin 1962 neu editiert. Die beiden hier aufgenommenen Suiten wurden 1963 herausgegeben.

Die „Dritte Suite“ Op. 61 basiert auf einer Schauspielmusik Shebalins zu „Puschkins Drama „Der Steinerne Gast“, die er 1935 für eine Radioproduktion von Vsevolod Meyerhold geschrieben hatte. Die dem Album zugrundeliegende Fassung von Leonid Feigin sieht ein Riesenorchester vor: Neben Streichern gibt es drei Flöten, Piccolo, zwei Oboen, Englischhorn, drei Klarinetten, Bassklarinette, Fagott, Kontrafagott, vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen, Tuba, Triangel, Pauken, Kastagnetten, Trommeln, Glockenspiel, Becken, Röhrenglocken, Harmonium und Harfe. Trotz des mächtigen Apparats klingt die Musik duftig, zart durchhaucht von melancholischen Sequenzen. Spanisches Kolorit und Tanzrhythmen wie Habanera bestimmen den atmosphärischen Duktus. Shebalin überrascht hier mit wunderbar eleganten melodiösen Soli der Violine, der Oboe, der Klarinette. Im Finale ereilt unseren Don Juan sein verdientes Schicksal, er verschwindet mit dem Komptur hochdramatisch orchestral begleitet im Orkus. 

Die „Vierte Suite“ Op. 62, hat die 1958 für das Moskauer Maly-Theater entstandene Musik zu Oscar Wilde’s „Lady Windermere‘s Fächer“ zur Grundlage. Die charmante Geschichte um die angebliche Nebenbuhlerin Mrs. Erlynne, die sich als Mutter der Lady entpuppt, wird mit einem kleineren, der Intimität der Story passenden Instrumentarium und vielen sprechenden Soli erzählt: Mit Glockenspiel überzuckerte Streicher, Klarinetten, Oboen, ein glanzvolles Menuett erinnert an Prokofievs „Romeo und Julia“. Ein wie Gewitterwolken dunkel sich drehender Walzer, ein „Tanz der Puppen“, ein Abschiedswalzer. Welch seliger Rausch im Dreivierteltakts ist Shebalin hier eingefallen. Die Musik für die vorliegende Konzertversion hat Vladislav Agafonnikov 1986 arrangiert. 

1958 begann Shebalin die Arbeiten am Ballett „Im Namen eines Lebens“. Nach dem Prolog und dem ersten Akt war Schluss, das Werk blieb unvollendet. Leonid Feigin destillierte 1973 aus der vorhandenen Musik eine halbstündige „Ballettsuite“.

Die spätromantisch grundierte Musik wildert stilistisch in der Musikgeschichte von französisch angehauchtem Post-Tchaikovsky Sound, Wagner-Anleihen bis martialisch knalligeren Rhythmen. Und dennoch fügen sich die Ingredienzien zu einem bekömmlichen Kuchen, der ist was er ist, nämlich unvergleichlich mehr als seine Einzelbestandteile. 

Das exzellente Sibirische Symphonieorchester, eines der Größten Russlands, unter der engagierten und musikantisch mitreissenden Leitung von Dmitry Vasiliev legt Vollblutinterpretationen aufs Parkett. Die enorme Qualität des Orchesters rührt auch daher, dass es aus einer unerschöpflichen Quelle an Graduierten der Konservatorien in Novosibirsk, Ural und St. Petersburg schöpfen kann.

Tipp: Das Sibirische Symphonieorchester unter der musikalischen Leitung von Dmitry Vasiliev spielt Musik des österreichischen Spätromantikers Julius Bittner (1. Symphonie aus dem Jahr 1923 und die symphonische Dichtung „Vaterland“ 1915), ebenfalls Toccata Records.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

Diese Seite drucken