Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

CD: Richard Stöhr Orchestral Music Vol. 4 Kammer Sinfonie F-Dur, op. 32 Sinfonia Varsovia Ian Hobson, musikalische Leitung Toccata Classics, TOCC0766

09.11.2025 | Allgemein, cd

CD: Richard Stöhr Orchestral Music Vol. 4 Kammer Sinfonie F-Dur, op. 32 Sinfonia Varsovia Ian Hobson, musikalische Leitung Toccata Classics, TOCC0766

Erweckt Stöhrs verborgene Sinfonie zum Klingen

stor

Richard Stöhr, geboren 1874 in Wien als Sohn eines Buchhändlers, verkörperte das klassische Bild des vergessenen Genies. Er studierte am Konservatorium unter Anton Bruckner, dem Titan der Spätromantik, und später bei Robert Fuchs, einem Meister der Klarheit und Form. Stöhr selbst wurde zu einem gefeierten Pädagogen: Über Jahrzehnte lehrte er am Wiener Konservatorium Harmonielehre und Kontrapunkt, formte Generationen von Musikern und zählte unter seinen Schülern Figuren wie Erich Korngold. Doch als Komponist blieb er im Schatten. Die Nazis zwangen ihn 1938 zur Emigration in die USA, wo er in Armut starb, 1948 in White Plains, New York. Seine Werke, darunter neun Sinfonien, Kammermusik und Lieder, ruhten lange in Archiven. Erst in den letzten Jahren gräbt das Label Toccata Classics sie aus – mit Folge 4 dieser Reihe, die nun die Kammer-Sinfonie op. 78 in den Vordergrund rückt. Dieses Stück aus dem Jahr 1932, für eine ungewöhnliche Besetzung mit Streichern, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn und Harfe konzipiert, dauert rund 50 Minuten und entfaltet sich in vier Sätzen. Es ist ein Juwel der Spätromantik, das Naturstimmungen einfängt, ohne je in Sentimentalität abzugleiten. Unter der Leitung des britischen Dirigenten Ian Hobson, der für seine sensible Annäherung an vergessene Repertoire bekannt ist, bringt die Sinfonia Varsovia diese Sinfonie mit einer Frische zum Leben, als wäre sie gestern entstanden.

Die Sinfonia Varsovia, ein polnisches Ensemble mit Wurzeln in der barocken Tradition, aber einem Faible für abseitige Moderne, sitzt hier wie angegossen. Hobson, der schon unzählige Ur- und Erstaufführungen dirigierte – von Liszt bis zu obskuren Briten wie Havergal Brian –, lenkt das Ganze mit einer Hand, die zugreift, ohne zu würgen. Die Aufnahme atmet eine Natürlichkeit, die den Hörer direkt in den Klangraum versetzt. Kein Effekt, keine Überproduktion: Die Harfe schimmert durch wie Sonnenlicht auf einem Teich, das Horn ruft fern und nah zugleich. Es ist Musik, die nicht prahlt, sondern einlädt, und sich anfühlt wie ein warmer Handschlag.

Der Eröffnungssatz, ein gemäßigtes Allegro, webt sich aus wellenden Streicherbewegungen auf, die sich anfühlen wie der Atem eines Waldes im Herbstwind. Ein feines Hornsolo tritt ein, klar und verletzlich, als flüstere es Geheimnisse der Erde. Die anderen Bläser – Oboe mit ihrer weichen Traurigkeit, Klarinette mit spielerischem Charme, Fagott als erdiger Anker – gesellen sich hinzu, und die Harfe streut silberne Akzente wie fallende Blätter. Stöhr malt hier eine feine Welt der Naturstimmungen: Nicht laut und stürmisch, sondern intim, wie ein Spaziergang durch Nebel, wo jeder Schritt neue Klänge weckt. Die Streicher wogen in dichten, transparenten Schichten, und die Melodien haften sofort, weil sie so ungekünstelt wirken. Hobson hält das Tempo flüssig, lässt Pausen atmen, und die Musiker reagieren mit einer Intensität, die den Satz zu einem lebendigen Organismus macht. Man merkt: Das ist keine bloße Notenfolge, sondern ein Gespräch unter Freunden, das den Zuhörer mitnimmt in eine Sphäre, wo Zeit stillsteht.

Dann der zweite Satz, ein Andante, das mit einem verstörenden Klang beginnt: Dem gedämpften Horn, das wie ein ferner Schrei durch die Stille hallt. Es ist ein Moment, der unter die Haut geht, als ob Stöhr die Schmerzen seiner Zeit einfängt – die Unsicherheit der 1930er, die Emigration, die er ahnte. Die Streicher greifen das auf und intonieren ein aufsteigendes Lamento, ein Klagegesang, der sich in traurigen Bögen windet. Doch es bleibt nicht bei der Trauer; Bläser weben Kontraste hinein, die Harfe ein zartes Trösten. Bewegend und faszinierend zugleich, weil Stöhr meisterhaft dosiert: Die Dissonanzen beißen, ohne zu verletzen, und die Auflösungen erlösen wie ein Seufzer. Die Sinfonia Varsovia musiziert hier mit einer Engstirnigkeit, die berührt – kein technisches Feuerwerk, sondern pure Emotion. Hobson dirigiert es so, dass jede Phrase atmet, und der Klang bleibt natürlich, als säße man in einem kleinen Saal, umgeben von den Instrumenten. Es ist ein Satz, der nachhallt, der einen zwingt, innezuhalten und zu fühlen.

Der dritte Satz, ein Scherzo, dreht den Spieß um und bringt Leichtigkeit. Die Oboe startet einen kecken Tanz, flink und schelmisch, wie ein Elf im Unterholz. Nach und nach schließen sich die anderen an: Die Klarinette neckt mit sprunghaften Läufen, das Fagott stampft erdverbunden mit, und die Streicher wirbeln in einem Wirbel aus melodischen Einfällen. Die Harmonien umarmen einander, einnehmend und warm, ohne je in Süßlichkeit zu kippen. Stöhr zeigt hier seinen Reichtum: Jede Phrase birgt eine Überraschung, das den Tanz frisch hält. Es schmückt sich mit Klangjuwelen – ein Glissando der Harfe, ein plötzliches Hornintermezzo –, und das Ganze wirkt wie ein Fest, das aus dem Nichts entsteht. Die Musiker greifen das mit Freude auf; man hört ihr Engagement in jedem Akzent, in der präzisen, doch lockeren Interaktion. Hobson treibt es voran, ohne zu hetzen, und die Aufnahme fängt die Vitalität ein, als ob die Noten vor Freude tanzen würden. Ein Schmuckstück, das den Hörer lächeln lässt und den Verdacht weckt: Warum kennen wir das nicht alle?

Das Finale schließlich, ein energisches Allegro con brio, startet mit einer klaren Spannungsansage – ein markantes Motiv, das wie ein Weckruf ertönt. Es baut sich auf zu einem vitalen Wirbel, wo Stöhrs Kreativität explodiert: Melodische Vielfalt in Hülle und Fülle, Themen, die sich jagen und verschmelzen, Bläser, die triumphieren, Streicher, die jubilieren. Die Harfe hält den Faden, das Horn ruft zum Höhepunkt. Es ist ein Satz, der die Sinfonie abrundet, ohne abzuschließen – er endet in Ekstase, als ob die Musik weiterfliegen wollte. Die Sinfonia Varsovia und Hobson harmonieren hier prächtig; ihr Spiel klingt wichtig und spontan, als improvisierten sie gemeinsam. Die Klangqualität ist fabelhaft: Warm, detailliert, mit einem Raumklang, der die Instrumente atmen lässt.

Insgesamt ist diese Einspielung ein Meilenstein. Stöhr, der vergessene Wiener, verdient diesen Schub ans Licht. Seine Kammer-Sinfonie op. 78, mit ihrer Balance aus Intimität und Schwung, erinnert an Mahler in Kleinformat oder an die zarte Seite von Strauss. Sie spricht vom Schönen in der Natur, vom Schmerz des Lebens, vom Tanz der Seelen – und tut es mit einer Humanität, die berührt. Toccata Classics leistet Pionierarbeit, und Ian Hobson mit seinem Orchester macht es besonders eindrücklich. Denn in einer Welt voller Hits ist das ein echter Schatz, der glänzt.

Dirk Schauß, im November 2025

Richard Stöhr
Orchestral Music Vol. 4
Kammer Sinfonie F-Dur, op. 32
Sinfonia Varsovia
Ian Hobson, musikalische Leitung
Toccata Classics, TOCC0766

 

Diese Seite drucken