CD PILGRIMAGE – DMYTRO CHONI spielt Werke von Silvestrov, Liszt, Debussy und Lowell Liebermann; naïve
Bekenntnishafte Größe: „Bei der Auswahl der Stücke, die ich vortragen möchte, gehe ich sorgfältig vor und wähle diejenigen aus, die mich momentan besonders berühren.“ Choni
Jörn Schmidt räsoniert in einem sehr interessanten und differenziert argumentierten Beitrag vom 12. Mai anhand eines Konzerts in der Elbphilharmonie vom Vortag über das Wechselspiel von Perfektionismus und Inspiriertheit sowie daraus resultierende Fallstricke für Spannung im Interesse des Hörers. Ich möchte diese Überlegungen um die Facetten objektiv-subjektiv und Verfasstheit ein wenig erweitern. Bei der intensiven Beschäftigung mit dem sehr bemerkenswerten Album des ukrainischen, in Österreich lebenden Pianisten Dmytro Choni, der sich mit „Pilgrimage“ beim Wort genommen auf eine spirituell musikalische Wanderschaft begibt, bin ich sozusagen über mich selbst gestolpert.
Dieses Album lief fünfmal in Schleife, weil mich Choni mit seiner Art, Musik als Bekenntnis zu begreifen, mit der ungeheuren Subjektivität in der Interpretation, der ungeschminkten Leidenschaft im Vortrag und ja, den von äußerst intim bis rasend entäußerten Emotionen, zuweilen gegen das Fell gebürstet hat. Im Grunde liegt mir ein eher nüchtern-strukturiertes Hörerlebnis am nächsten, wo man den Formen der Komposition analytisch auf den Grund gehen kann. Die Gefühle, die kalte oder heiße Glut, ergeben sich dann von selbst.
Je nach individueller (Tages)Verfassung kann das wahrscheinlich nicht nur bei mir auch anders aussehen. Dann wiederum ist das sich Hineinfallen lassen in wogende Klangkosmen, in eine Art von Eskapismus, das Gleiten in die abstrakten Parallelwelten der Musik, die dennoch am Ende auf das Hier und Jetzt mit all den Sehnsüchten und Projektionen, den Träumen und Ängsten verweisen und daraus ihre existenzielle Wucht schöpfen, das Schönste auf der Welt. Musik begriffen als etwas Hochpersönliches, das sich die nötige Freiheit nimmt, um sie über das rein Technische, das objektiv Einschätzbare weit hinaus als etwas zu leben, das uns im Innersten etwas angeht. Genau das macht Choni am Klavier.
Dmytro Chonis Album spannt den Bogen im Sinne der Polarität in Dantes „Göttlicher Komödie“ von der überirdischen Leichtigkeit etwa in Silvestrovs „Drei Bagatellen“ Op. 1, Debussys „Image“, zweite Serie „Et la lune descend sur le temple qui fut“ oder „L’Isle joyeuse“ bis zum Vorhof der Hölle, wie sie klanglich ironisch in „Gargoyles“ von Lowell Liebermann oder handfester in Liszts „Dante Sonate“ (Années de pélerinage II, Italie) zum Ausdruck kommt.
Gegensätzliche Welten im Hin und Her von Höhen und Tiefen im Leben, von Licht und Dunkelheit, von Gut und Böse, denen Choni auf ungeheuer ehrliche und merklich persönlich involvierte Weise nachspürt, sodass sein Ansatz niemanden unberührt lassen kann. Was Virtuosität und Anschlagsnuancen anlangt, ist Choni ohnedies Weltklasse. Dmytro Choni bewegt die Frage nach der stetigen Wandlung seiner Interpretationen, eines künstlerischen Prozesses, der niemals endet und der ihn in einer bereits auf die Zukunft gerichteten Reflexion besonders bei Liszts „Dante-Sonate“ beschäftigt, die den Pianisten seit zehn Jahren begleitet.
Nach ein paar Tagen Kalabrien hat es auch bei mir gezündet. Um es auf den Punkt zu bringen, „Pilgrimage“ ist ein großes, ein bedeutendes, ein pianistisch wie künstlerisch aufregendes Album geworden. Auf einem großartig klangschönen und -wandelbaren C. Bechstein Konzertflügel D 282 im Wiener Konzerthaus eingespielt, begeistert Choni mit einem wirklich hauchzarten ‚Allegretto con moto (rubato), dolce, leggero e transparente‘ von Valentyn Silvestrov sowie der aufwühlenden, ätzend-diabolischen Fantasia quasi Sonata „Aprés une lecture du Dante“ von Franz Liszt. Tastenzauber, erzählerisches Fabulieren und abgründige Dämonie.
Als Höhepunkte des Albums haben mich besonders die technisch so anspruchsvolle wie farbexotische ‚L’Isle joyeuse“ von Claude Debussy, die Choni als einen „Ort der Hoffnung und Freude abseits der Kämpfe und Unsicherheiten dieser Welt“ bezeichnet, als auch die vierteilige Suite „Gargoyles“ des amerikanischen Tonsetzers Lowell Liebermann mitgenommen. Gargoyles bezeichnen mythische Wesen in Menschengestalt und Fledermausflügeln, die tagsüber zu Stein werden oder aber grotesk makabre Wasserspeier von mittelalterlichen Kathedralen. An Letzteren und an den charaktervollen musikalischen Miniaturen von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ hat sich Liebermann, der sich selbst in seinen kontrastreich gesetzten, satirisch zubeißenden Kompositionen nicht zuletzt auf Prokofiev bezieht, orientiert. Choni hält das ‚Adagio semplice, ma con moto rubato‘ geheimnisvoll in traumverlorener Schwebe, für das ‚Presto feroce‘ lässt er den Beelzebub mit feuerspeiendem Drachenschweif wüst dahingaloppieren, die immer rasanter sich drehenden virtuosen Bahnen bis zum Umfallen beschleunigend.
Als stilistisch maximal entgegensetzten Ausklang lässt Choni den regelmäßigen Atem im Postludium Op. 5 von Silvestrov zu ewiger Ruhe gerinnen. „Ist dies etwa der Tod?“
Fazit: Jugendlich ungestüm, einfühlsam und atmosphärisch zupackend!
Dr. Ingobert Waltenberger